SPOX: Selbst aus deutscher Sicht ist Atletico ein sehr spezieller Klub. Woher kommt das?
Vizcaino: Ein Hauptgrund dafür ist sicherlich der Standort. Atletico kommt nun mal aus der gleichen Stadt wie Real Madrid und muss somit an der Seite des erfolgreichsten Klubs der Welt leben. Auch deshalb hat der Verein den Ruf des Verlierers. Dabei sind wir derzeit die dritte Kraft in Spanien und es gibt alleine in La Liga 17 schlechtere Teams. Den Stempel schleppen wir dennoch mit uns rum. Um dies zu kompensieren, brauchst du sowohl als Spieler als auch als Fan eine besondere Einstellung. Das CL-Halbfinale gegen die Bayern ist ein gutes Beispiel. Dieses Spiel war bis zur letzten Minute ein richtiger Fight. Wir haben nicht die Voraussetzung wie andere Klubs. Deshalb müssen wir mehr geben als alle anderen. Diese Kämpfereinstellung und dieser Spirit haben uns ins Finale gebracht und unterscheiden uns von zahlreichen anderen Klubs.
SPOX: Ist das auch ein Grund für die Feindschaft zwischen Real und Atletico?
Vizcaino: Eine Rivalität zwischen zwei Teams aus der gleichen Stadt ist normal. Bei Atletico und Real ist es etwas Besonderes, da die Königlichen fünfmal größer sind, mehr TV-Einnahmen bekommen, bessere Voraussetzungen und mehr Fans haben. Das ist dann noch mal etwas anderes.
(Vor dem EL-Final gegen Fulham und dem Pokalfinale gegen Sevilla)
Derzeit hat jeder einen Traum. Den alten Traum, nach den Sternen zu greifen. Weil wir es verdient haben. Das Problem ist, dass diesen gleichen Traum tausende von Engländern und tausende von Sevillistas haben. Was wir allerdings wissen: Wir träumen viel stärker. Mit allem, was wir haben.
SPOX: Gibt es Unterschiede in der Persönlichkeit zwischen Real- und Atletico-Fans?
Vizcaino: Absolut. Ich glaube, dass ein Anhänger von Atletico eine stärkere Persönlichkeit hat. Ein Anhänger von Real kann jeder sein. Das ist herzlich einfach und bringt dich nicht weiter. Hingegen Altetico-Fan zu sein, bedeutet für viele Menschen alles. Man wählt bewusst nicht den einfachen Weg. Du weißt, dass du vermutlich nicht das Triple holen wirst, aber aufgeben wird nicht in deinem Wortschatz auftreten.
SPOX: Ganz so schlimm steht es aktuell um Atletico allerdings nicht. Wie haben Sie die letzten Jahre verfolgt?
Vizcaino: Sie waren natürlich wunderschön. Wir sind derzeit so gut wie noch nie in der Geschichte des Klubs. Cholo Simeone hat den Verein von einem "Beautiful Loser" in einen "Glorious Fighter" verwandelt. Und das, mit einem Kader voller guter, aber keineswegs außergewöhnlichen Spielern. Simeone hat es jedoch geschafft, dass die Spieler glauben, dass sie außergewöhnlich sind und gegen jede Mannschaft der Welt gewinnen können. Nur so haben wir La Liga gewonnen und waren bereits 2014 im Finale der Champions League. Seit Cholo da ist, hat sich die Zielsetzung des Klubs verändert. Oder wie Cholo sagt: "Si se cree, se puede" ("Wenn sie dran glauben, schaffen sie es", d. Red.).
SPOX: Atletico zeichnet sich vor allem durch die Spielweise aus. Könnte der Klub auch einen anderen Stil spielen?
Vizcaino: Unser Stil ist schon seit Jahrzehnten geprägt durch schnelles Kontern. Diego Simeone hat diesen Stil zu einem Gesetz gemacht. Die Rechnung ist eigentlich ganz einfach. Wenn man Spieler wie Barca oder Bayern hat, ist es durchaus möglich, auf Ballbesitz zu spielen. Wir haben andere Voraussetzungen und müssen deshalb mit unseren eigenen Waffen kämpfen: Pressing, Kampf, wir müssen enge Zweikämpfe gewinnen, den Mitspieler unterstützen und eben ordentlich kontern. Würde Simeone Barca oder Bayern coachen, würde er ja auch nicht auf Konter spielen.
SPOX: Passt Cholo Simeone mit seinem Rambo-Image perfekt zu Atletico?
Vizcaino: Für mich ist Simeone der beste Trainer der Welt. Das ist unabhängig davon, ob er die Champions League gewinnt oder nicht. Das Wichtigste bei einem Coach ist doch, was er aus den Spielern macht. Und das ist bei ihm schlichtweg beeindruckend. Er hat den Spirit und die Art und Weise verändert, wie die Elf auftritt. Ich kann mir derzeit keinen anderen Trainer vorstellen.
SPOX: Für viele ist Fußball wie eine Religion. Können Sie uns als Experte für Emotionen und Leidenschaft das erklären?
Vizcaino: Das ist nicht möglich, glaube ich. Es gibt schlichtweg keine logische Erklärung dafür. Viele Menschen spüren an keinem anderen Ort der Welt eine solch starke Freude und manchmal ein solch starkes Leid. Ein wichtiger Faktor ist sicherlich die Zugehörigkeit. Man ist Teil einer Gruppe oder einer Familie und leidet mit dieser. Ich habe Freunde, die Wissenschaftler und gleichzeitig Atletico-Fans sind. Auch sie können diesen Irrsinn und die Leidenschaft nicht erklären.
SPOX: Abschließend noch ein Tipp fürs Finale am Samstag. Wie geht das Spiel aus?
Vizcaino: Ganz klar: Atletico gewinnt 2:0. (lacht)