Real Madrid feiert historischen Champions-League-Hattrick: Die Allesfresser

Von Oliver Wittenburg
Real Madrid hat zum dritten Mal in Serie und zum vierten Mal in fünf Jahren die Champions League gewonnen.
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Real Madrid hat zum dritten Mal in Serie und zum vierten Mal in fünf Jahren die Champions League gewonnen. Die historische Dimension des Erfolgs lässt sich an den Zahlen allein schon gut ablesen, doch ist das Madrid von heute auch tatsächlich eins der besten Teams der Geschichte?

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Mit dem Sieg von Kiew über den FC Liverpool scheinen Ramos, Ronaldo, Benzema, Bale, Marcelo, Kroos und Co. da angekommen, wo man nur hinkommt, wenn man die ganz großen Dinge geschafft hat.

Die Kriterien lauten: Titel gewinnen und eine Ära prägen. Der Sehnsuchtsort ist die virtuelle Hall of Fame der besten Mannschaften aller Zeiten.

Inoffizielle Mitglieder - subjektiv ausgewählt - sind: das Real Madrid der 1950er und 60er Jahre, Helenio Herreras Inter, Johan Cruyffs Ajax und Franz Beckenbauers Bayern, Bob Paisleys Liverpool, Arrigo Sacchis Milan und Pep Guardiolas Barcelona zwischen 2008 und 2012.

Und jetzt ist da eben das Real Madrid unter Zinedine Zidane mit den eingangs erwähnten Verdächtigen und bittet um Einlass. Doch die Frage darf erlaubt sein: Wofür steht das Real Madrid von heute?

Historische Teams Europas: Von Di Stefano und Co. bis Pep Guardiola

  • Das Real mit Di Stefano, Puskas, Kopa und Gento war das "weiße Ballett", das seine Gegner förmlich niedertanzte. Diese Ära gipfelte im 7:3 gegen Eintracht Frankfurt im Endspiel von 1960 in Glasgow. Ob der Spielkunst der Königlichen wollten viele Betrachter damals ihren Augen nicht trauen.
  • Der "Magier" Herrera setzte mit seinen psychologischen Kniffen und seiner Detail- und Disziplinversessenheit neue Maßstäbe und formte mit eiserner Hand das "Grande Inter", eine kaum bespielbare und schier unschlagbare Maschine.
  • Das Ajax unter den Trainern Michels und Kovacs überrollte den Kontinent mit seinem "Totalen Fußball", spielte - ganz gleich ob mit oder ohne Ball - mit einer Geschwindigkeit, die man bis dahin nicht gekannt hatte.
  • In München hatte der junge Trainer Udo Lattek mit viel Verstand eine Mannschaft gebaut, die individuelle Klasse mit Teamgeist verband und deren Trümpfe der moderne Libero Beckenbauer und ein nicht zu bremsender Torjäger namens Müller waren.
  • Paisley brachte das Kunststück fertig, eine vom legendären Bill Shankly aufgebaute Spitzenmannschaft mit taktischer Expertise und meisterlichen Personalentscheidungen auf das nächste Level zu bringen und in nur neun Jahren sechs Meisterschaften und drei Landesmeistercups zu gewinnen.
  • Sacchi schaffte den Libero ab, kreierte damit die Viererkette und baute in Mailand eine furchterregende Pressingmaschine mit Baresi, Maldini und dem holländischen Dreigestirn aus Rijkaard, Gullit und van Basten. Auf dem Zenit war das Team wohl im Frühjahr 1989, als es Real Madrid im Halbfinalrückspiel des Landesmeistercups 5:0 und Steaua Bukarest im Finale mit 4:0 besiegte.
  • Guardiola schließlich perfektionierte die Idee des totalen Fußballs niederländischer Prägung und erreichte mit Barcelona ein schwindelerregendes Niveau. Das Champions-League-Finale 2011 gegen Manchester United (3:1) ließ in puncto Ballbesitz, Spielkontrolle, Passspiel, Laufbereitschaft und kollektivem Handeln keine Wünsche mehr offen.

Wofür steht Real Madrid unter Zinedine Zidane

Das Real unserer Tage hat den Nachteil, dass seine Erfolge noch zu frisch sind, um mit verklärtem Blick rekapituliert zu werden. Der Prozess der Legendenbildung hat noch nicht eingesetzt.

Dennoch: Man wird das Real von heute wohl kaum für seine fußballerischen Hervorbringungen rühmen. Die Mannschaft spielt keinen spezifischen Stil, sie hat keine unverwechselbare Handschrift.

Sie wirkt noch nicht einmal besonderes homogen. Wie wäre es sonst zu erklären, dass sich zwei Leistungsträger Minuten nach dem historischen Triumph von Kiew vor die Mikrofone stellen, um Statements in eigener Sache - und zwar: geschäftlicher Natur - abzugeben?

Sie wirkt eher wie eine Zweckgemeinschaft, in der hochqualifizierte Individualisten mit äußerster Professionalität und Effizienz ihrem Job nachgehen. Beeindruckend und in höchstem Maße Respekt abnötigend sind dabei die Kontinuität und Beharrlichkeit, mit der Real über Jahre immer in den entscheidenden Momenten seine beste Leistung abruft und kühlen Kopf bewahrt.

Real Madrid - ein alles verschlingendes Monster?

Real hat vielleicht keinen spezifischen Stil, dafür sind alle Spieler und selbstredend auch Trainer Zinedine Zidane jedoch erfahren und talentiert genug, scheinbar intuitiv das Nötige zu tun, um sich durchzusetzen.

Und wenn in einer Saison die unglaubliche Stärke bei Standards den Ausschlag gibt, dann ist das eine Qualität. Und wenn in einer anderen Saison Ronaldo und Bale die Gegner in Grund und Boden kontern, dann ist das eine Qualität.

Und wenn auf der Zielgeraden der eben zu Ende gegangenen Saison das Mittel heißt, Fehler der Gegner eiskalt auszunutzen, dann ist das eben auch eine Qualität von Real Madrid.

Vielleicht wird das Real der Jahre 2014 bis 2018 in ein paar Jahrzehnten als ein alles verschlingendes Monster gefeiert, als eine Mannschaft, die so gut und so abgezockt war, dass sie für jede Lebenslage das passende Werkzeug parat hatte und - das ist ganz entscheidend - es auch einzusetzen wusste.

Und dann wird man das Team von Zidane, Ramos, Ronaldo und Co. wie selbstverständlich zu den besten aller Zeiten zählen. Man wird sehen.

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