"Ziele dürfen verfehlt werden, Werte nicht! Führungspolitik hinterfragen!", prangte während der letzten Minuten dieses aufreibenden Viertelfinal-Rückspiels der Champions League gegen Manchester City auf einem riesigen Spruchband vor der Münchner Südkurve. Es war ein beachtlicher Angriff der aktiven Fanszene auf die Bosse des FC Bayern München - nachdem die Mannschaft auf dem Platz zunächst ebenfalls einen beachtlichen Angriff hingelegt hatte.
Der Vollständigkeit halber kurz die Zusammenfassung: Die Münchner ließen sich von der unglücklichen 0:3-Hinspielpleite nicht beirren, spielten von Beginn an schön und zielstrebig nach vorne, trafen das Tor aber nicht. Nach Erling Haalands 1:0 in der 57. Minute erlosch der Glaube an ein Wunder. Joshua Kimmich gelang in der Schlussphase per Hand-Elfmeter immerhin noch das Ehrentor zum 1:1. Wie schon in den vergangenen beiden Spielzeiten scheiterte der FC Bayern in der Champions League somit im Viertelfinale.
Die Münchner Protagonisten äußerten sich anschließend zufrieden über die eigene Leistung und bemängelten die Chancenverwertung, das fehlende Spielglück, die Leitung von Schiedsrichter Clement Turpin sowie den Zustand des Rasens. Alles nachvollziehbare Punkte. Der Mannschaft ist nach diesem Auftritt kaum ein Vorwurf zu machen und dem erst neulich installierten Trainer Thomas Tuchel ebenfalls nicht.
Kahn und Salihamidzic reagieren auf Fan-Spruchband
Nach den Vorkommnissen der vergangenen Wochen und Monate gerät stattdessen die Klubführung um den Präsidenten Herbert Hainer, den Vorstandsvorsitzenden Oliver Kahn sowie Sportvorstand Hasan Salihamidzic weiter in die Kritik.
Abgesehen vom großen Spruchband hieß es auf einem anderen Banner auch noch: "Brazzo + Kahn: Helden von einst, Pfeifen von heute." Zweifel gibt es aber offenbar nicht nur von den Fans: Am Donnerstag-Morgen berichteten TV-Experte Jan Aage Fjörtoft sowie die Bild, dass es auch interne Diskussionen über Kahns Zukunft gäbe und sogar eine vorzeitige Ablösung des Vorstandsvorsitzenden denkbar wäre.
"Nein, diese Gerüchte stimmen nicht", sagte allerdings Präsident Herbert Hainer auf eine Anfrage der Deutschen Presse-Agentur später.
Angesprochen auf die Fan-Kritik sagte Kahn nach dem Spiel, dass er sich "permanent" hinterfrage. Mit seinem Gemütszustand mache die Kritik aber "nicht viel". Salihamidzic äußerte sich ähnlich, Hainer will die Botschaften gar nicht gesehen haben.
Man könnte sagen: durchaus bezeichnend. Tatsächlich wirkt es so, als entfremden sich die Klubführung und die eigene Basis zunehmend. Natürlich war man sich auch früher gerne mal uneins, doch damals fühlte sich das irgendwie anders an. Hainer, Kahn und Salihamidzic pflegen einen anderen Stil als ihre Vorgänger Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß. Sie wirken unnahbarer, kälter, schwieriger zu durchschauen.
FC Bayern: Die Bosse haben ihre Fallhöhe erhöht
Exemplarisch dafür steht der Trainerwechsel von Julian Nagelsmann zu Thomas Tuchel. Er war in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt verwunderlich und wurde darüber hinaus katastrophal kommuniziert. Dass Nagelsmann von der Entscheidung über die Medien erfuhr - kurz nachdem er noch öffentlich gestärkt worden war - ist dabei durchaus stimmig. Selten zuvor wurden in so einer Regelmäßigkeit Interna geleakt wie aktuell, von tätlichen Auseinandersetzungen bis hin zu Taktik-Anweisungen.
Mit dem Trainerwechsel haben die Bosse zudem ohne allzu große Not ihre eigene Fallhöhe bedenklich erhöht. Nachdem nun zwei von drei Titeln verspielt sind, landen sie entsprechend hart. Wegen des Trainerwechsels färbt der Misserfolg viel stärker auf die Bosse ab, als er es ansonsten getan hätte. Was ein etwaiges Verpassen der Meisterschaft für sie bedeuten würde, erscheint noch völlig unabsehbar.
Seit der Trennung von Nagelsmann ist aber nicht nur der erhoffte Sturm auf das Triple ausgeblieben. Es hat sich auch an der sportlichen Gesamtsituation kaum etwas geändert. Die Nagelsmann stets vorgeworfene Inkonstanz der Mannschaft setzt sich unter Tuchel nahtlos fort. Starke Auftritte gegen Borussia Dortmund oder Manchester City werden beispielsweise konterkariert von dem bedenklich schlechten Spiel gegen die TSG Hoffenheim am Samstag. Und was sagt Salihamidzic dazu? "Man sieht, dass es jetzt einfach besser geht." Eine gewagte These.
Zur Erinnerung: Trotz aller Bundesliga-Tiefpunkte coachte Nagelsmann seine Mannschaft etwa im Champions-League-Achtelfinale gegen die Star-Auswahl von Paris Saint-Germain zu zwei guten Leistungen und Ergebnissen. Stand jetzt haben die Bosse keine Argumente, die den noch dazu ziemlich teuren Trainerwechsel rechtfertigen.
FC Bayern: Das Fehlen eines Torjägers ist offensichtlich
Kritik an dieser Entscheidung muss sich die Führungsetage nun genauso gefallen lassen wie an der Kaderzusammenstellung. Daran, dass der jahrelange Torjäger Robert Lewandowski nach dessen Abgang im vergangenen Sommer nicht entsprechend ersetzt wurde. Selten zeigte sich die Unwucht im Aufgebot des FC Bayern besser als bei diesem 1:1 gegen Manchester City.
Es gab zwar etliche Chancen, aber keinen Vollstrecker. Der wiedergenesene Eric Maxim Choupo-Moting ist zwar ein guter Stürmer, höchsten internationalen Ansprüchen wird er aber nicht gerecht. Darüber kann auch seine starke Phase im Herbst nicht hinwegtäuschen, als er wochenlang über seinen Verhältnissen spielte. Den einzigen Treffer gegen City erzielte mit Kimmich erneut ein Defensivspieler, wie schon die drei vorangegangenen Pflichtspieltore auch.
Auf der anderen Seite machte dagegen mit Haaland ein waschechter Torjäger alle Münchner Hoffnungen zunichte, ausgerechnet Haaland. "Wir haben im Vorfeld dieser Saison alles versucht, die Neun nachzubesetzen", beteuerte Kahn. "Auch mit einer Neun, die wir heute gesehen haben - aber eben nicht auf unserer Seite." Laut Kahn sei es "eine Preisfrage" gewesen, dass letztlich weder Haaland noch irgendein anderer berühmter Stürmer gekommen sei.
FC Bayern: Herbert Hainer macht Hoffnung auf Star-Transfer
Interessanterweise unterscheiden sich Kahns Gedanken zur Mittelstürmer-Thematik von Salihamidzics und Hainers - die beide wiederum unterschiedliche Sichtweisen haben. Salihamidzic wollte keine Kritik an der Kaderzusammenstellung annehmen. Der Sportvorstand verwies auf "acht Offensivspieler für vier Positionen, die Weltklasse haben". Außerdem habe der vermeintliche Königstransfer Sadio Mané auch beim FC Liverpool als Mittelstürmer gespielt.
Hainer bekannte dagegen unumwunden: "Uns fehlt im Moment der Torjäger, der die Dinger vorne reinmacht." Anders als Kahn (und auch Salihamidzic) macht sich Hainer aber offenbar keine allzu großen Sorgen um die Finanzierung eines neuen Torjägers. Gehandelt wurden zuletzt Harry Kane (Tottenham Hotspur), Victor Osimhen (SSC Neapel) und Randal Kolo Muani (Eintracht Frankfurt), die jeweils um die 100 Millionen Euro kosten dürften.
Angesprochen auf einen Transfer in dieser Größenordnung, sagte Hainer: "Der FC Bayern ist finanziell sehr, sehr gut aufgestellt. Wir haben eine unheimlich hohe Eigenkapitalquote, wir haben auch noch ein bisschen Geld auf dem Festgeldkonto." Immerhin das Festgeldkonto ist also geblieben von den guten, alten Zeiten beim FC Bayern.
Champions League: Das Viertelfinale im Überblick
Datum | Heim | Gast | Rückspielergebnis | Hinspielergebnis |
18.04.23 | SSC Neapel | AC Milan | 1:1 | 0:1 |
18.04.23 | FC Chelsea | Real Madrid | 0:2 | 0:2 |
19.04.23 | Inter Mailand | SL Benfica | 3:3 | 2:0 |
19.04.23 | FC Bayern | Manchester City | 1:1 | 0:3 |