"Als ob uns der Pokal gestohlen wurde"

Jochen Tittmar
30. Mai 201412:44
Marcel Schmelzer mit Schiedsrichter Florian Meyer, der dem BVB ein reguläres Tor aberkanntegetty
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Marcel Schmelzer von Borussia Dortmund laboriert derzeit an einer Prellung im linken Knie und kann im Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft in Südtirol nicht voll trainieren. Im Interview spricht der Linksverteidiger über die Auswirkungen des verlorenen DFB-Pokal-Endspiels gegen den FC Bayern München, die Akzeptanz-Probleme der BVB-Spieler im DFB-Team und Snooker mit Mats Hummels.

SPOX: Herr Schmelzer, hat Sie Atletico Madrids Führungstor im Champions-League-Finale eigentlich an etwas erinnert, als Sie es hier im Trainingslager im Kreise der deutschen Nationalmannschaft gesehen haben?

Marcel Schmelzer: Leider ja. Wir Dortmunder haben uns alle angeschaut. Es war deprimierend zu sehen, dass es nur eine Woche nach dem Pokalfinale eine sehr ähnliche Situation gab, ein Torrichter eingesetzt wurde und der Treffer gezählt hat. Das war für eine kurze Zeit schon ein sehr komisches Gefühl. Letztlich müssen wir die Geschichte aber abhaken. Wir bekommen das Spiel nicht mehr zurück.

SPOX: In der Basketball-Bundesliga wurde Spiel vier der Viertelfinalplayoffs zwischen den Riesen Ludwigsburg und dem FC Bayern aufgrund einer Fehlentscheidung der Schiedsrichter wiederholt. Ist das für Sie ein im Fußball denkbarer Weg?

Schmelzer: Nein, daran glaube ich nicht. In meinen Augen wäre es der beste Weg, sich einmal mit der Torlinientechnik zu befassen. Unsere Auswechselspieler haben gesehen, dass der Ball im Tor war. Der Linienrichter stand sogar noch besser als sie. Daher macht es wenig Sinn, sich in solchen Situationen ausschließlich auf die Linienrichter zu verlassen - zumal sie ja gleichzeitig auch noch auf mögliche Abseitsstellungen schauen müssen. In solch wichtigen Spielen brauchen wir entweder Torrichter oder die Torlinientechnik.

SPOX

SPOX: Mats Hummels sagte kürzlich, ihn wurme das verlorene Pokalfinale immer noch, auch hier in Südtirol.

Schmelzer: Das ist auch total verständlich. Es ist einfach bitter. Beide Mannschaften waren gleich stark, ein Spiel auf absoluter Augenhöhe. Entweder läuft es auf ein Unentschieden und Elfmeterschießen hinaus oder das Team, das den ersten Treffer erzielt, gewinnt. Wir haben den ersten Treffer erzielt - er hat halt nur nicht gezählt. Von daher fühlen wir uns schon so, als ob uns der Pokal sozusagen gestohlen wurde. Wir waren uns relativ sicher, dass wir das Spiel gewinnen, wenn wir das erste Tor schießen. Deshalb ist es sehr enttäuschend, einen solchen Erfolg in der Karriere verpasst zu haben.

SPOX: An mancher Stelle wird davon gesprochen, dass ein Jahr ohne Titel bereits ein verlorenes Jahr für den BVB sei und man seine Topspieler so auf Dauer nicht halten könne. Sie dagegen spielen seit Sie 17 sind für Schwarzgelb.

Schmelzer: Es gab natürlich gerade nach den zuletzt so erfolgreichen Spielzeiten auch für mich Möglichkeiten. Aber wie Mats Hummels schon einmal in einem Interview sagte: Der Großteil unserer Mannschaft hat einfach das Bedürfnis und die Lust, gerade in einem Team, das so wie wir zusammengewachsen ist und sich nach und nach verbessert hat, Erfolge zu feiern. Titel sind beim BVB keine Selbstverständlichkeit, es ist sehr schwer, dauerhaft erfolgreich zu sein. Es stand für mich noch nicht zur Debatte, irgendwo neue Luft schnuppern zu wollen.

SPOX: Sie sehen also weiterhin großes Entwicklungspotential in Dortmund?

Schmelzer: Natürlich. Leider haben wir immer riesige Abgänge zu verkraften, das ist natürlich bitter. Nicht jeder hat eben so wie andere das Gefühl, dass es nichts Besseres gäbe, als die Erfolge mit dem BVB zu feiern. Bisher haben wir es immer geschafft, die Abgänge zu ersetzen. Bei Robert Lewandowski wird es wohl einfach zu schwer, das dürfte nicht ganz machbar sein. Es gibt auf der Welt allerhöchstens drei Spieler, die seine Position gleichwertig spielen können - und die können wir uns in Dortmund auf keinen Fall leisten.

SPOX: Ciro Immobile vom FC Turin soll auserkoren worden sein, Lewandowski nachzufolgen. Was wissen Sie über ihn?

Schmelzer: Ich habe ihn noch nie live spielen sehen, sondern nur ein paar seiner Tore angeschaut. Das ist alles, was ich zu ihm sagen kann.

SPOX: Sie haben in dieser Saison nur 27 Pflichtspiele im Verein absolvieren können...

Schmelzer: ...(unterbricht) 27?

SPOX: Genau. 19 in der Bundesliga, fünf in der Champions League und drei im DFB-Pokal. SPOX

Schmelzer: Ah, in Ordnung. Doch so viele (lacht). Es hat sich weniger angefühlt.

SPOX: Immer wieder warfen Sie dabei kleinere und größere Verletzungen zurück. Wie sehr haben Sie mit Ihrem Schicksal gehadert, zumal die Saison hinsichtlich der WM nicht ganz unwichtig war?

Schmelzer: In der Hinrunde schon eher als zuletzt. Da war ich wirklich sehr oft verletzt und hatte auch Probleme, das in den Griff zu bekommen. Als das aber geklappt hat und ich die Winter-Vorbereitung absolvieren konnte, habe ich wieder alle Partien spielen können - bis das Spiel gegen St. Petersburg kam. Dort habe ich mich in einer Situation mit Fremdeinwirkung verletzt. Da konnte mein Körper nichts dafür, das hätte jedem anderen auch passieren können. Ich hatte ja sogar noch Glück im Unglück, dass mir der Muskel nicht komplett abgerissen ist. Sonst wäre ich jetzt nicht hier in Südtirol. Ich wusste zwar, dass es eng werden könnte, habe aber nicht damit gehadert. Ich war im Gegenteil sehr optimistisch, dass ich am Saisonende noch ein paar Spiele machen werde.

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SPOX: Das hat funktioniert, Erik Durm musste sich zum Saisonausklang wieder hinter Ihnen anstellen. Jetzt ist er auch bei der Nationalmannschaft dabei. Ihn werden Sie so schnell offenbar nicht los, oder?

Schmelzer: Ich freue mich darüber, dass er nominiert wurde. Durch ihn sind wir ja ein Dortmunder mehr in der Nationalmannschaft (lacht). Im Ernst: Ich sehe in unserem Konkurrenzkampf keine Probleme. Jedem Spieler, egal auf welcher Position, bleibt ja nichts anderes übrig, als so gut es geht zu trainieren und damit dem Bundestrainer zu signalisieren, dass man bereit steht.

SPOX: Roman Weidenfeller meinte, er sehe Durm nicht als Streichkandidat und gehe fest davon aus, dass er in Brasilien dabei sein wird. Sehen Sie das ähnlich?

Schmelzer: Auf jeden Fall. Er hat eine starke Saison gespielt. Natürlich kam seine Nominierung etwas überraschend, andererseits haben wir ja auch keinen anderen Linksverteidiger mehr im Kader. Deshalb ist es für mich wahrscheinlicher, dass er dabei sein wird, als dass er nach Hause muss.

SPOX: Dass es so wenige Linksverteidiger gibt, hängt wohl auch mit der Ausbildung zusammen. Woran liegt es für Sie, dass der Nachschub auf dieser Position so gering ist?

Schmelzer: Ich denke, dass es generell schwierig ist, einen guten Linksfuß zu finden - und dazu noch einen, der quasi keine Tore schießen möchte. Die meisten Spieler mit einem starken linken Fuß spielen im Moment im rechten Mittelfeld. Ich kann nicht sagen, ob es ein Problem der Ausbildung ist. Man muss diese Position ja auch spielen wollen. Wenn ich einem 14-Jährigen sage, er solle ab sofort links hinten in der Abwehr spielen, dann wird er in den meisten Fällen antworten, stattdessen lieber Tore schießen zu wollen.

SPOX: Wohl auch deshalb äußerte Bundestrainer Joachim Löw vor rund eineinhalb Jahren in Ihre Richtung, dass er sich einen neuen Linksverteidiger nicht schnitzen könne. Um die BVB-Spieler entstand nebenbei einer Art Akzeptanz-Debatte. Wie hat sich die Wertschätzung der Schwarzgelben im Kreise der Nationalmannschaft verändert?

Schmelzer: Es ist mittlerweile viel besser geworden. Wir Dortmunder haben die Spielphilosophie und die Abläufe nun verinnerlicht. Anfangs war das schon schwieriger, weil wir vom BVB einen ganz anderen Fußball gewohnt waren. Das ist ja auch irgendwo normal. Wir wissen jetzt, wie es in der Nationalelf funktionieren soll.

SPOX: Worin besteht denn auf Ihrer Position der größte Unterschied für Sie im Vergleich zum Verein?

Schmelzer: Beim DFB-Team liegt die Priorität darauf, flach von hinten heraus zu spielen. Daran musste man sich gewöhnen, aber dieser Prozess ist längst abgeschlossen. In Dortmund hatten wir mit Robert ja auch lange Zeit jemanden vorne drin, der weite Bälle brutal stark sichern konnte. Wir spielen im Verein auch mal von der Abwehr heraus direkt hinter die letzte Linie, weil wir in der Offensive sehr sprintstarke Leute haben. Das geht hier natürlich auch, das Hauptaugenmerk liegt aber eher auf dem Flachpass.

SPOX: Wurde der Zusammenhalt in der Nationalmannschaft besser, nachdem auch die Dortmunder nun fester und akzeptierter Bestandteil sind?

Schmelzer: Ob das daran lag, vermag ich nicht zu beurteilen. Der Zusammenhalt ist aber definitiv noch größer geworden, auch die Gier, etwas gemeinsam zu erreichen, wurde intensiver. Ich würde behaupten: Das Verhältnis außerhalb des Platzes ist lockerer und auf dem Platz konzentrierter geworden.

SPOX: Liegt das gerade jetzt auch daran, dass man sich mehrere Wochen auf ein großes Ziel einschwören kann und nicht wie während der Saison von Termin zu Termin hetzen muss?

Schmelzer: Eindeutig. Wir haben hier die nötige Ruhe, alles um uns herum ist perfekt. Wenn dann ein solches Ereignis wie die Weltmeisterschaft vor der Tür steht und man ausreichend Zeit hat, um sich darauf vorzubereiten, dann schweißt das einfach zusammen. Wir verbringen hier ja auch unsere Freizeit zusammen. Dadurch wächst der Teamgeist schneller, als wenn man nur kurze Zeit miteinander arbeitet. Man muss aber auch abschalten können.

SPOX: Wie sieht das Abschalten genau aus?

Schmelzer: Wenn man zwei Mal am Tag trainiert, regeneriert man eigentlich nur. Hat man etwas mehr Zeit, dann gehen die einen Golf spielen, die anderen duellieren sich im Tischtennis oder man genießt die Aussicht vom Pool aus.

SPOX: Welche Option nutzen Sie?

Schmelzer: Im Moment trete ich gegen Mats Hummels am Snookertisch an. Das haben wir zuletzt auch bei der Europameisterschaft getan. Es ist also schon etwas her, daher brauchen wir jetzt erstmal wieder Spielpraxis (lacht).

SPOX: Es gibt einige Nationalteams, die dick eingepackt die große Hitze in Brasilien simulieren wollen. Die klimatischen Bedingungen werden wohl noch eine sehr große Rolle spielen. Haben Sie schon einmal etwas Vergleichbares am eigenen Leibe gespürt?

Schmelzer: Bisher nicht. Ob es etwas bringt, auf diese Weise die Temperaturen nachzuahmen, sei mal dahingestellt. Ich weiß nur noch, wie wir damals immer geschmunzelt haben, wenn Nelson Valdez erzählte, dass es etwas anderes sei, in Südamerika zu spielen, weil man da nach kurzer Zeit schon platt wäre. Wir dachten, das hätte bei ihm andere Gründe (lacht). Die Hitze wird aber schon eine neue Erfahrung für uns werden. Wenn man dort ab der 70. Minute kaputter ist als bei Spielen in Europa, dann entscheidet der Wille. Darauf wird es meiner Ansicht nach verstärkt ankommen.

SPOX: Denken Sie, es ist möglich, einen laufintensiven Spielstil durchdrücken zu können?

Schmelzer: Es wird möglich sein, wenn auch nicht über die vollen 90 Minuten. Das ist eine Frage der Kraft - und genau daran arbeiten wir hier im Trainingslager.

SPOX: Hitze hin oder her, das DFB-Team will Weltmeister werden. Was spricht in Ihren Augen für Deutschland?

Schmelzer: Mir wird zu viel darüber geredet, was im Halbfinale oder Finale passieren könnte. Stattdessen sollten eher die Gruppenspiele in den Fokus gerückt werden, darauf müssen wir uns konzentrieren. Portugal wird das allerwichtigste Spiel sein, denn wer da verliert, steht sofort enorm unter Druck. Wenn wir die Gruppenphase überstehen sollten, dann erwarten einen gerade bei der WM nur noch Kracher. In unserem Fall könnte es beispielsweise Belgien sein, die auch ich als Geheimfavorit einstufe.

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