Am 8. Juli 1990 wurde Deutschland zum dritten Mal Fußball-Weltmeister. Bodo Illgner war mit erst 23 Jahren die unumstrittene Nummer eins im deutschen Tor. Im Interview spricht Illgner über dolce vita im Trainingsquartier, den Film von Sepp Maier, den Führungsstil von Franz Beckenbauer und ein unendlich langes Finale.
SPOX: Herr Illgner, am Mittwoch treffen sich die Weltmeister von 1990 25 Jahre nach Ihrem Triumph von Rom in Kaltern zur Jubiläumsfeier. Sie mussten kurzfristig absagen, warum?
Bodo Illgner: Seit Donnerstag ging es mir aufgrund einer Magenverstimmung sehr schlecht und ich musste den für Sonntag gebuchten Flug canceln. Mittlerweile geht es mir zwar schon wieder besser, aber Florida liegt nicht gerade um die Ecke. Natürlich ist es sehr schade, dass ich dieses Mal nicht dabei sein kann. Wir haben uns bisher alle fünf Jahre getroffen und ich wäre auch dieses Mal sehr gerne dabei gewesen, weil das 25-jährige schon ein besonderes Jubiläum ist.
Die WM 1990 im Überblick
SPOX: Welche Erinnerungen verbinden Sie mit Kaltern? Dort hat die Mannschaft ihr Trainingslager aufgeschlagen, nachdem sie zuvor in Malente zusammengekommen war.
Illgner: Ja, der Geist von Malente durfte auf gar keinen Fall fehlen. (lacht) In Kaltern haben wir dann einen Vorgeschmack bekommen, welche Bedeutung die Weltmeisterschaft für die Fußballfans in Deutschland hat. Das war beindruckend. Von den mitgereisten Anhängern ist uns eine Euphorie entgegengeschlagen, die wir dann weiter in den Süden mitgenommen haben.
SPOX: Nach Erba an den Comer See ins WM-Quartier Castello di Casiglio.
Illgner: Dort haben wir abgeschieden, aber trotzdem nicht total isoliert gewohnt. Das war genau die richtige Mischung und die Grundlage für den Erfolg.
SPOX: Das italienische Lebensgefühl soll schnell Einzug gehalten haben.
Illgner: Soweit Deutsche das leben können, ja. Wir hatten viele Spieler, die in der italienischen Liga aktiv waren. Klinsmann, Brehme und Matthäus spielten bei Inter und kannten sich in der Gegend aus. Mailand, wo wir unsere ersten fünf Spiele im Giuseppe-Meazza-Stadion ausgetragen haben, war nur eine Fahrtstunde entfernt. Das hat dazu geführt, dass wir uns schnell heimisch gefühlt haben. Die drei gaben uns Tipps zur Freizeitgestaltung und empfahlen uns Restaurants, in die wir mit unseren Frauen oder mit Teamkollegen gehen konnten. Und über allem stand die Lockerheit vom Franz, der uns Freiräume gelassen hat. Gleichzeitig haben wir gut und hart gearbeitet. Das hat alles perfekt ineinander gegriffen.
SPOX: Und keiner hat die Freiräume mal genutzt und über die Stränge geschlagen?
Illgner: Nein, mir ist da nichts bekannt.
SPOX: Die Beschreibung des idyllischen WM-Lagers mit der gewissen Lockerheit erinnert auch an das Campo Bahia bei der WM 2014.
Illgner: Die Aussagen von Oliver Bierhoff, der das Quartier ja ausgewählt hat und der Spieler haben mich stark an Erba erinnert. Das Castello war für uns wie eine kleine Insel, auch wenn wir keine Fähre brauchten. Wir waren hinter verschlossenen Türen, sodass nicht jeder rein und raus gehen konnte, wie das bei früheren Turnieren noch der Fall war. Dieses Gefühl ist enorm wichtig, weil man sich sonst nicht frei bewegen kann. Man wird nicht dauernd von Journalisten angesprochen, muss nicht immer Stellung beziehen. In der Öffentlichkeit trägt man ja häufig eine Maske. Wenn etwas schlecht gelaufen ist, muss man trotzdem Optimismus ausstrahlen. Wenn man ein bisschen überschwänglich ist, muss man auf dem Boden bleiben. Aber innerhalb unserer vier Wände konnten wir ausgelassen sein, uns ein bisschen gehen lassen und beispielsweise beim Billard sowie einem Bierchen abschalten.
SPOX: Sie waren damals erst 23 Jahre alt, nach Andreas Möller der zweitjüngste Spieler im Kader und absolvierten Ihre erste WM. Waren Sie überrascht von der lockeren Atmosphäre?
Illgner: Es war meine erste Weltmeisterschaft, aber ich stieß 1987 zur Nationalmannschaft und war auch schon 1988 bei der EM dabei. Damals hatten wir am Tegernsee Quartier bezogen und das Lebensgefühl ging in die gleiche Richtung. 1990 war deshalb kein Neuland für mich. Der Großteil der Gruppe, dazu zähle ich den ganzen Betreuerstab, war bei der EM ähnlich und hat dort begonnen, sich zu formen. Ich bin über drei Jahre in diesen Kader hineingewachsen und habe alle wichtigen WM-Qualifikationsspiele gemacht. Dadurch fühlte ich mich ideal vorbereitet und auch nicht als Zweitjüngster im Kader.
SPOX: Sie waren die Nummer eins, obwohl die Kollegen Raimond Aumann und Andreas Köpke deutlich älter und erfahrener waren. Haben Sie vor und während des Turniers Druck gespürt?
Illgner: Das gute Verhältnis zwischen Aumann, Köpke, Torwarttrainer Sepp Maier und mir war entscheidend. Es ist keineswegs selbstverständlich, bei einer WM und in der Qualifikation auf einen so jungen Torhüter zu setzen. Dem Trainerteam gebührt auch 25 Jahre danach großer Respekt und großer Dank, dass das Vertrauen in mich in meinen jungen Jahren so groß war und nicht daran gerüttelt wurde. Wenn bei einem Torwart Zweifel aufkommen, kann nicht so eine Leistung zustande kommen, wie ich sie bei der WM gebracht habe: eine sichere, solide Leistung, ohne, dass ich übermäßig viel geprüft wurde.
SPOX: Weil Sie so wenig auf den Kasten bekamen, wird Ihr Beitrag zum Titel von den Kollegen im Spaß oft runtergespielt. Rudi Völler hat mal gesagt: 'Wir hätten auch mit elf Feldspielern spielen können, Letzter macht Hand.' Müssen Sie den Flachs immer noch über sich ergehen lassen?
Illgner: Nein, das wird mir gegenüber nicht angesprochen. Ich habe es auch so empfunden, dass ich insgesamt wenig geprüft worden bin, was für eine großartige Mannschaftsleistung und Abwehrarbeit spricht.
SPOX: Im Halbfinale hat Ihnen Kommentator Dieter Kürten den Ausgleich der Engländer durch Gary Lineker angekreidet: "Torwart, wo bist du? Mann, Illgner. Der Torwart muss doch raus." Haben Sie das im Nachhinein mitbekommen?
Illgner: Nein, das habe ich nicht mitbekommen. Nach dem Halbfinale gegen England überwog die Freude über den Finaleinzug und den gehaltenen Elfmeter gegen Stuart Pearce. Das dominierte auch die Berichterstattung.
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Seite 2: Illgner über Maiers Späße, den privaten WM-Film und das Finale
SPOX: Als Torhüter hatten Sie sehr engen Kontakt zu Sepp Maier, der als großer Spaßvogel für Unterhaltung im Team sorgte. Es gibt unzählige Geschichten über die Zeit während der WM. Einmal hat er dem Masseur Adi Katzenmeier einen echten Hasen in seinen Koffer gepackt. Als Andi Brehme dann im Training eine Verletzung simulierte, kam Katzenmeier mit seinem Koffer an und fand nur diesen Hasen drin.
Illgner: Adi Katzenmeier war die gute Seele unseres Teams und so ein guter Kerl, der hat mir schon leidgetan und sich die Sache auch zu Herzen genommen. Adi wollte sogar abreisen. Da hätte sich der Sepp lieber einen anderen aussuchen sollen bei diesem Scherz. Aber insgesamt hat der Sepp es hervorragend verstanden, den Spaß mit der Arbeit zu verbinden und unseren Alltag enorm aufgelockert.
SPOX: Und Maier war mit seiner Kamera immer ganz nah dran. Hat Sie das nicht gestört?
Illgner: Es war eigentlich klar, dass diese Erinnerungen für den internen Gebrauch bestimmt sind und unter uns bleiben. Deshalb haben wir Sepp mit der Kamera recht wenig Bedeutung beigemessen und uns ganz natürlich gegeben.
SPOX: Waren Sie ein bisschen schockiert darüber, dass der Film 2012 veröffentlicht wurde? Sie sind ja auch das eine oder andere Mal nackt zu sehen.
Illgner: Das war schon eine Überraschung, nicht nur für mich, sondern auch für viele andere Spieler. Es war nie geplant, dass der Film an die Öffentlichkeit kommt. Sepp hatte uns den Film bei einigen Treffen immer mal wieder vorgeführt, von einer Veröffentlichung war da nie die Rede. Es gab so viele schöne Bilder, die man ohne Probleme zeigen kann und nur ein Bruchteil der Bilder, die so nicht unbedingt hätten veröffentlicht werden müssen, da hätte man sicher einige Szenen verändern können.
SPOX: Was die Bilder auch zeigen ist, dass bei allem Spaß der Fokus immer auf dem Wesentlichen lag. War diese Mentalität die größte Stärke der Mannschaft?
Illgner: Auf jeden Fall. Ein wichtiges Argument war, dass viele Spieler die WM 1986 im Mexiko erlebt hatten und das Turnier in vielen Bereichen nicht so erfolgreich verlief. Diese Spieler wie Matthäus, Völler, Littbarski und Brehme waren auch die Führungsspieler. Sie waren besonders engagiert und motiviert, sie haben dafür gesorgt, dass der Kurs immer gestimmt hat. Ich hatte immer das Gefühl, diese vier wollen diesen Titel unbedingt gewinnen. Für sie hätte das Turnier aufgrund ihres Alters auch die letzte WM sein können.
SPOX: Diese Spieler haben dann auch auf dem Platz entscheidende Rollen gespielt. Matthäus machte gegen Jugoslawien sein wahrscheinlich bestes Länderspiel, Brehme entschied das Achtelfinale gegen Holland. Diese beiden Partien werden auch immer als Schlüsselspiele genannt. Sehen Sie das auch so?
Illgner: Das Auftaktspiel hat uns enormen Schwung verliehen, weil Jugoslawien ein sehr hoch gehandelter Gegner war. Wir haben das Spiel so klar und ohne Probleme gewonnen und damit gleich einen deutlichen Akzent gesetzt. Holland war unser ständiger Rivale. Bei der EM 1988 sind wir an den Holländern gescheitert, in der Qualifikation haben sie uns auf Rang zwei verwiesen, auch wenn beide Spiele unentschieden endeten. Holland hatte zu dieser Zeit durch den EM-Titel leicht die Nase vorne. Die Bestätigung, gegen den Europameister bestehen zu können, war deshalb sehr wichtig.
SPOX: Wie wichtig war auch ein schlechtes Spiel wie das gegen die Tschechoslowakei im Viertelfinale? Die Mannschaft hatte nach dem Sieg über Holland eineinhalb Tage freibekommen, was zu einigen Diskussionen geführt hat.
Illgner: Das Spiel hat uns den Kopf zurückgerückt. Die Tschechoslowakei war ja ein schwächerer Gegner als Holland und wir haben das Spiel zu leicht genommen. Dadurch haben wir aber gemerkt, dass wir mit den Füßen auf dem Boden bleiben und konzentriert weiter arbeiten müssen, wenn wir den Titel gewinnen wollen.
SPOX: Beckenbauer hat während des Spiels an der Seitenlinie getobt, später auch in der Kabine Sachen durch die Gegend geschossen und die Mannschaft ziemlich rund gemacht.
Illgner: Das war auch sehr wichtig zu diesem Zeitpunkt. Franz hat uns den Kopf gewaschen und uns damit auf den Boden geholt. Sepp Maier hatte dann das richtige Händchen und hat den Franz wieder eingefangen. So war die Verbindung zwischen Mannschaft und Teamchef schnell wiederhergestellt.
SPOX: Wie haben Sie Beckenbauer insgesamt während des Turniers wahrgenommen?
Illgner: Im Vergleich zu 1986, als er stark in der öffentlichen Kritik stand und einige Sachen nicht so gut gelaufen sind, war er der souveräne Teamchef, eine absolute Respektsperson. Er hatte alles im Griff und hat alles souverän gehandelt.
SPOX: Hat er vor dem Finale wirklich nur gesagt: "Geht's raus und spielt's Fußball"?
Illgner: Die Tage vor dem Finale haben wir wie das gesamte Turnier über Videoanalysen des Gegners gemacht. Das Trainerteam hat uns mit Videos auf die Stärken, Schwächen und Besonderheiten des Gegners vorbereitet. In der abschließenden Besprechung ist dann ganz am Ende dieser Satz gefallen. Diese Worte passten perfekt zu diesem Moment. Es wäre total überflüssig gewesen, zu diesem Zeitpunkt noch Motivation pauken zu wollen oder die Bedeutung dieser Partie herauszustellen. Das hat Franz richtig erkannt, das war überragend.
SPOX: Fußball gespielt hat dann auch nur die deutsche Mannschaft, Argentinien knüpfte an die schwachen Leistungen des Turniers an und wollte nur ins Elfmeterschießen. Wie haben Sie das Spiel erlebt?
Illgner: Rein aus fußballerischer Sicht hatten wir den Sieg verdient. Auch wenn es heute noch viele Leute gibt, die sagen, das war kein Elfmeter an Rudi Völler. Es war die zweite oder dritte umstrittene Aktion im Strafraum und für mich aus der Entfernung war es ein klarer Elfmeter. Wir haben die ganze Zeit gespielt, Argentinien hatte keine Chance. Aber das Spiel kam mir unendlich lang vor, weil die Anspannung so groß war. Selbst als die Argentinier zwei Mann weniger auf dem Platz hatten...
SPOX: ...Monzon und Dezotti hatten in der 65. bzw. 87. Minute Rote gesehen...
Illgner: Ja, aber das Gefühl ließ nicht nach, es war eine unheimliche Anspannung bis zum Schluss, obwohl eigentlich gar nichts passiert ist. Aber wir wussten ja auch, dass den Argentiniern ein langer Ball von Maradona oder ein schneller Angriff reichen konnte, um doch noch gefährlich zu werden.
SPOX: Es blieb beim 1:0, Deutschland wurde zum dritten Mal Weltmeister. Und wie die letzten Minuten dürfte auch die Feier im Anschluss lang geworden sein.
Illgner: Es war eine sehr schöne Feier, es herrschte pure Ausgelassenheit. Sogar Egidius Braun wurde besungen, er solle gleich die Prämien rausrücken. Er war dafür bekannt, dass er als Schatzmeister den Igel in der Tasche hat. Wann ich ins Bett bin, weiß ich nicht mehr genau. Es war auf jeden Fall spät.
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