Joshua Kimmich spielte beim Nations-League-Auftakt gegen Weltmeister Frankreich überraschend auf der Sechs. Dort lieferte der 23-Jährige ein starkes Spiel ab und überzeugte nicht nur Bundestrainer Joachim Löw. Ob er weiter in der Zentrale auflaufen wird, ist offen. Folgen könnte das Gastspiel auch für seine Rolle beim FC Bayern München haben.
Eigentlich war Joshua Kimmich schon immer eine Art Notnagel für den Posten des rechten Außenverteidigers. Als ihn die Bayern im Sommer 2015 verpflichteten, hatte der damals 20-Jährige in der 2. Liga nur im Mittelfeld gespielt, wo er auch ausgebildet wurde. Mal zentral, mal defensiv, hin und wieder auch auf dem rechten Flügel.
Pep Guardiola probierte seinen Neuzugang in der folgenden Saison auf weiteren Positionen aus: So landete Kimmich erst im Mittelfeld, in der Rückrunde war er plötzlich Stammspieler in der Innenverteidigung. Nominell Rechtsverteidiger spielte er in der Liga gerade einmal über 90 Minuten. 2016/17 war es ähnlich. Erst als Philipp Lahm zurücktrat und seine Position neu zu besetzen war, rückte Kimmich fest rechts hinten in die Viererkette.
Unter Joachim Löw spielte sich Kimmich im Laufe der Europameisterschaft 2016 fest. Er durfte auch hier mal im Mittelfeld oder der Innenverteidigung ran, wie etwa im Confed Cup 2017. Trotzdem war er eigentlich der Rechtsverteidiger, beziehungsweise der einzige Außenverteidiger im deutschen Kader von internationaler Klasse.
Kimmich als Außenverteidiger: Angefreundet - aber nicht abgefunden
Fazit: Im DFB-Trikot gibt Kimmich - mit Ausnahmen - seit rund zwei Jahren den Rechtsverteidiger, bei den Bayern erst ein gutes Jahr. Trotzdem ist er in der öffentlichen Wahrnehmung unlösbar mit dieser Rolle verbunden, eigentlich gar nicht mehr wegzudenken. Gesucht wurde vielmehr das Gegenstück zu Kimmich auf der linken Seite.
Doch der Jungstar selbst hatte sich mit der Rolle am Spielfeldrand zwar angefreundet, aber nicht abgefunden. Seine Wunschposition blieb weiter das Zentrum. Nicht nur bei den Bayern, sondern auch in der Nationalelf. Wo die Auswahl an Spielern vor der Abwehr noch größer ist als bei den Bayern, das Angebot an Außenverteidigern dafür kleiner. "Bis jetzt deutet nichts darauf hin", sagte er im Interview mit der Süddeutschen Zeitung über eine mögliche Versetzung durch Löw. "Aber falls es so kommen sollte: Ich wäre bereit."
Der Moment kam früher als gedacht. Im ersten Spiel nach der WM in Russland, beim mit Argusaugen beobachteten Neuanfang, bei dem man so viel reparieren, aber auch noch mehr kaputtmachen konnte, stellte Löw Kimmich als alleinigen Sechser vor der Viererkette auf. Und der war bereit.
Deutschland - Frankreich: Kimmich hinter Kroos - mit Spezialauftrag
"Nach der WM war das ein Gedanke in meinen Überlegungen, dass ich im taktischen Bereich Maßnahmen ergreifen muss. Jo Kimmich hat das in seiner Jugend schon einige Male gespielt. Wir haben das im Training getestet. Er hat das sehr gut gemacht", schilderte der Bundestrainer. Kimmich selbst habe "ein Grinsen nicht unterdrücken" können, als Löw ihm zwei Tage vor dem Spiel seine alte und neue Position eröffnet habe, gab er später zu.
Davon war auf dem Rasen der Allianz Arena nichts zu sehen. Unheimlich ruhig und abgeklärt erledigte Kimmich seine Aufgaben im Zentrum, als Sechser hinter den beiden Achtern Toni Kroos und Leon Goretzka. Gerade Kroos hatte ohne eine Absicherung hinter sich bei der WM zu kämpfen, ein Casemiro wie bei Real Madrid, der ihm den Rücken freihält und defensiv entlastet, fehlte.
Aber Kimmich sollte nicht einfach nur den Ausputzer spielen. "Ich sollte auf den Raum vor unseren Innenverteidigern aufpassen, weil die Franzosen mit vielen langen Bällen auf Giroud spielen. Ich sollte die Bälle dort abfangen", verriet er seine Spezialaufgabe. Und die löste er mit Bravour, stellte Anspielstationen in der Mitte zu und biss sich gegen die Weltstars der Equipe Tricolore in die Zweikämpfe.
Kimmich auf der Sechs: Gute Statistik, gutes Auftreten
Mit Erfolg. Giroud beendete seinen Arbeitstag mit nur 22 Ballkontakten, seine Nebenmänner hatten im Zweikampf mit Kimmich eine Erfolgsquote von 22 Prozent vorzuweisen. Im weiteren Spielverlauf schaltete dieser sich auch mehr und mehr nach vorn ein. Am Ende standen die drittmeisten Ballaktionen, die zweitmeisten Ballgewinne und eine ausgezeichnete Passquote von über 94 Prozent zu Buche - da hatte sogar Kroos (93,8 Prozent) das Nachsehen.
Überzeugend auch, wie Kimmich auftrat. Mit selbstbewusster Körpersprache und einer Selbstverständlichkeit, die vermittelte: Hier gehöre ich her. Ein Typ, der über kurz oder lang zu den Führungsspielern gehören wird - schon jetzt ist er laut Bild ein Kandidat für den Mannschaftsrat. Mit 1,76 Metern Körpergröße kein wuchtiger Typ vom Schlage eines Sami Khedira. Aber dass es auch so gehen kann, beweist seit geraumer Zeit N'Golo Kante im Frankreich-Trikot.
"Er war sehr präsent und sehr zweikampfstark. Er war viel am Ball und hat das gut gelöst. Es war sicherlich eine gute Lösung", lobte Löw, und von den Teamkollegen gab es ebenfalls einhellig Beifall. "Trotz viel Druck hat er es fehlerlos gelöst", sagte Thomas Müller, "dass er die Fähigkeiten hat, dort zu spielen, ist keine Neuigkeit."
Bundestrainer Joachim Löw wird weiter testen
Der Gefeierte selbst formulierte zwar keine Ansprüche für die Zukunft, ließ aber keinen Zweifel daran, dass er lieber nicht mehr zurück in die Viererkette wechseln würde. "Von mir aus gerne öfter", erklärte er über die neue Position, aber die Entscheidung liege beim Trainer: "Ich habe schon oft gesagt, dass ich da spiele, wo ich gebraucht werde. Mal schauen, wie er mit mir plant."
Diese Frage ist noch nicht zu beantworten. Löw weiß nun, dass Kimmich das Spiel in der Zentrale nicht verlernt hat, dass er eine mehr als ordentliche Alternative im Zentrum darstellt. Zumal sich Matthias Ginter rechts hinten ebenfalls gut verkaufte und sich als Außenverteidiger-Alternative empfahl.
Doch Löw wird weiter testen - schließlich gilt es, nicht den bestmöglichen Kimmich, sondern die bestmögliche Elf für die Zukunft finden. Dabei könnte wie schon bei Lahm der Fall eintreten, dass Kimmich auf rechts immer noch am wichtigsten für das Team ist. Gegen kleinere Gegner könnten sein Vorwärtsdrang und seine guten Hereingaben auf dem Flügel schmerzlich vermisst werden. Und die Zusammensetzung des Mittelfelds ist weiterhin offen: Goretzka konnte sich neben Kroos nicht empfehlen.
Löw wird auch weitere Systeme testen wollen, wie etwa die Dreierkette, die sich beim Confed Cup bewährt hatte - damals mit Kimmich als Rechtsaußen. Oder ein System mit einem klassischen Spielmacher der Marke Mesut Özil, der die Dynamik im Mittelfeld erneut verändern würde. Gegen Frankreich profitierte Kimmich auch davon, dass aus der Offensive konsequent nach hinten mitgearbeitet wurde und die Abstände zwischen den Linien klein waren. Hier hätte auch ein Khedira besser aussehen können als noch in Russland.
Kimmich im DFB-Team - ein Fingerzeig für Bayern München?
Seinen Platz im Team hat Kimmich ohnehin sicher, ob nun rechts, zentral oder in einer ganz anderen Rolle. Mats Hummels betonte nicht umsonst die Vielseitigkeit des ausgebildeten Sechsers: "Eigentlich kannst du Josh überall hinstellen und es kommt etwas dabei heraus."
Sollte er sich nun aber zumindest gegen die großen Kaliber vor der Abwehr festgespielt haben, wird zu beobachten sein, wie sich das auf seine Rolle bei den Bayern auswirkt. Vereinstrainer Niko Kovac wird zweifellos genau zugeschaut und sich seine Gedanken gemacht haben.
Schließlich ist das Überangebot in der Feldmitte nach den Abgängen von Arturo Vidal und Sebastian Rudy geschrumpft, Javi Martinez entspricht vom Spielertyp her eher einem Khedira und ist gerade 30 Jahre alt geworden. Spätestens in einem Jahr könnte Kimmich auf rechts verzichtbar sein: Die Spatzen pfeifen einen Wechsel des neuen Weltmeisters Benjamin Pavard vom VfB Stuttgart zu den Bayern bekanntlich von den Dächern.