Alles begann mit einem veritablen Vollrausch. Mittlerweile weiß das jeder und natürlich auch sein Vater, damals aber hatte er davon keinen Schimmer. "Er hat immer gesagt: 'Papa, ich komme heute Abend nicht nach Hause. Ich schlafe bei Freunden in Rhede'", erinnert sich Holger Gosens im Gespräch mit SPOX und Goal. "Ich habe mir keinen Kopf darüber gemacht, was die da veranstalten. Dass sie ein Bier trinken, habe ich mir schon gedacht. Aber dass es solche Exzesse wurden, wusste ich nicht."
Die Gosens stammen aus dem Dörfchen Elten an der niederländischen Grenze, der Sohn kickte damals im größeren Rhede. Wie das dortige Bei-Freunden-Übernachten im Alter von 17 Jahren konkret aussah, erzählte Gosens Jahre später, längst war er Fußballprofi bei Atalanta Bergamo: Vorglühen im Keller eines Teamkollegen namens "Buggi", mit dem Fahrrad zur Dorfdisco Blues, die Nacht "durchzelebrieren", zwei bis drei Stunden Schlaf, mit 1,5 Promille aufstehen und ab zum Spiel mit der A-Jugend des VfL Rhede.
"Die spielten in der Niederrhein-Liga und da gab es Auswärtsspiele mit einer Anreise von bis zu 100 Kilometern. Egal was abends passiert ist, musste er am Sonntag um sieben Uhr morgens aufstehen", sagt Vater Holger. Der Ablauf war längst Routine: "Vor dem Spiel kam er mit der Mannschaft aus Rhede, ich von daheim aus Elten. Danach ist er mit mir zurückgefahren - und ich habe mich gewundert, warum er mittags direkt schlafen ging."
So lief das Woche für Woche und natürlich auch vor dem Auswärtsspiel beim 1. FC Kleve Anfang 2012, das ein Scout des niederländischen Erstligisten Vitesse Arnheim besuchte. Eigentlich war er gekommen, um einen übermäßig talentierten Spieler des Kooperationsklubs Kleve zu beobachten. Nach dem Spiel wollte er aber nur einen: Robin Gosens. Es war der Startschuss einer unwahrscheinlichen Karriere, die neun Jahre später in einer EM-Teilnahme gipfelte. Beim so wichtigen 4:2-Sieg Deutschlands gegen Portugal avancierte Gosens mit zwei Vorlagen und einem Tor sogar zum überragenden Mann. "Das ist surreal", sagt sein Vater.
Holger Gosens: "Er war schon fast Polizist in Rheinland-Pfalz"
Holger Gosens war bei der Gala seines Sohnes in München live dabei, genau wie einst in Kleve. "Vom Seitenrand aus habe ich gesehen, wie er nach dem Spiel angesprochen wurde. Er stand zentral auf dem Platz mit irgendjemandem, den ich nicht kannte. Danach habe ich ihn gefragt, wer das gewesen sei, und er meinte, ein Scout von Vitesse Arnheim." Dieser Scout bat Gosens das Probetraining an, das seine ursprünglichen Lebenspläne zerstören sollte.
An dem Tankstellen-Job für einen Stundenlohn von 8,50 Euro hing er nicht unbedingt, aber was sollte aus der angestrebten Beamtenkarriere werden? "Er war ja schon fast Polizist in Rheinland-Pfalz", erinnert sich sein Vater. Wie Gosens späterer Weg in die Fußball-Weltspitze, wäre auch der Weg zum Polizisten ein verschnörkelter gewesen. Einer durch die Fremde. "In Nordrhein-Westfalen ist er durchgefallen, weil seine Beine 0,5 Millimeter unterschiedlich lang sind, in Rheinland-Pfalz hatte er die erste Auslesungsrunde aber überstanden."
Stolz gemacht hat das vor allem den Opa, einst selbst Polizist und als enge Bezugsperson eine Inspirationsquelle für Gosens. Der Job hätte laut Vater Holger auch ganz wunderbar zu seinem Sohn gepasst, denn: "Unrecht geht ihm auf den Keks." Letztlich war er es aber, der ihm anders als Mutter Martina zum Schritt in die Niederlande riet: "Ich habe gesagt: 'Zur Polizei kannst du nächstes Jahr auch noch gehen. Hauptsache du musst dir später nicht sagen lassen, dass du es nicht versucht hast.'" Also Probetraining im rund 50 Kilometer entfernten Arnheim: Gosens überzeugte und schloss sich der A-Jugend von Vitesse an.
Robin Gosens bei Vitesse Arnheim: "Sein Lifechanger"
Zunächst wohnte er weiterhin bei seinen Eltern in Elten, machte sein Abitur und pendelte für die Trainingseinheiten nach Arnheim. Wenn er im Stau stand, lagen die Schulbücher gerne mal auf dem Lenkrad. "In dieser Zeit ist das entstanden, was wir beim Spiel gegen Portugal gesehen haben", sagt sein Vater. "Dieser absolute Wille, alles zu 100 oder mehr als 100 Prozent durchzuziehen. Diese Chance bei Vitesse war sein Lifechanger."
Fortan: Extraschichten statt Partynächte. Der Keller von "Buggi", die Dorfdisco Blues in Rhede, die Exzesse: alles Vergangenheit. Als er nach einem Jahr in der A-Jugend seinen ersten Profivertrag unterschrieb, sagte Gosens: "Alkohol und Fast Food sind für mich ein Tabu." Zumindest in dieser Hinsicht wurde er ein neuer Mensch und nebenbei auch ein neuer Fußballer. Nämlich: Linksverteidiger. Bis dahin hauptsächlich im zentralen Mittelfeld eingesetzt, ordnete der damalige Vitesse- (und spätere Dortmund- und Leverkusen-) Trainer Peter Bosz eine Umschulung an.
Wettkampfpraxis sammeln durfte Gosens auf der neuen Position aber nur in der Reserve, denn bei den Profis war dort Patrick van Aanholt gesetzt. Damals ein verheißungsvoller Neu-Nationalspieler, heute ein überraschender Wieder-Nationalspieler. Bei dieser EM sind Gosens und van Aanholt für Deutschland und die Niederlande im 3-5-2-System jeweils auf der linken Außenbahn Stammspieler.
Robin Gosens' Wechsel zum FC Dordrecht
Zurück nach Arnheim, zurück zur Vitesse-Reserve, wo Trainer Harry van den Ham vom damaligen Zweitligisten FC Dordrecht auf Gosens aufmerksam wurde. Bei einem Spiel am Dienstagabend sei es passiert: Gekommen war er wie einst der Vitesse-Scout nach Kleve eigentlich wegen eines anderen Spielers - überzeugt hat ihn aber nur Gosens. Was machte ihn so interessant? "Sein Drive", sagt er heute im Gespräch mit SPOX und Goal.
Arnheim verweigerte einen Transfer zunächst aber, woraufhin van den Ham seine persönlichen Kontakte zum befreundeten Cheftrainer Bosz spielen ließ. "Ich habe Peter gefragt: 'Ganz ehrlich, wird er bei dir spielen?' Er meinte: 'Eher nicht.' Daraufhin habe ich gesagt: 'Ich will Meister werden. Also wäre es besser, wenn er zu mir kommt.'" Im Januar 2014 wechselte Gosens per Leihe zum Zweitliga-Spitzenreiter Dordrecht.