Obwohl sich die deutsche Nationalmannschaft unter Hansi Flick von einem Tiefpunkt zum nächsten hangelte, hat der ehemalige Bundestrainer dem DFB-Team noch einen letzten großen Dienst erwiesen: Kurz vor seinem letzten Arbeitstag nominierte er Pascal Groß für die deutsche Nationalmannschaft und verhalf diesem beim folgenschweren 1:4 gegen Japan zu seinem Debüt.
Gegen Frankreich ließ ihn auch Übergangslösung Rudi Völler spielen. Jeweils nach Einwechslung zeigte der 32-Jährige erste gute Ansätze. Folgerichtig nahm ihn Flicks Nachfolger Julian Nagelsmann für dessen ersten beiden Spiele als Bundestrainer mit in die USA. Weil Joshua Kimmich krankheitsbedingt die Heimreise antrat, durfte Groß beim 3:1 gegen die US-Amerikaner erstmals von Beginn an ran - und erledigte seinen Job mit Bravour.
"Er hat das Leuchten in den Augen", schwärmte Nagelsmann, "für ihn ist die Nationalmannschaft was Besonderes, er brennt." Groß, der etwas überraschend den Vorzug vor Leon Goretzka bekam, glänzte als defensiver Part im Mittelfeld, als eine Art Bodyguard von Kapitän Ilkay Gündogan, der endlich mal wieder im DFB-Trikot das zeigen konnte, was ihn seit Jahren auf Vereinsebene auszeichnet.
"Pascal und Ilkay haben sich sehr schlau und sehr gut zwischen den Linien bewegt", sagte Nagelsmann und lobte Gündogan, der auch dank Groß' Absicherung viele Wege nach vorne machte und das zwischenzeitliche 1:1 erzielte, für ein "überragendes Spiel". Groß sah es derweil so, dass er von Gündogan profitiert habe: "Ilkay gibt jedem Spieler ein gutes Gefühl. Er ist ein absoluter Topspieler, der eine unfassbare Spielintelligenz und Ballsicherheit hat. Ich habe mich wohl gefühlt auf dem Platz, wir haben es gut gemacht."
Mit Groß hat das DFB-Team eine weitere Alternative für das zentrale Mittelfeld, die vielleicht sogar mehr als nur ein Ersatz für Joshua Kimmich ist. Eine Erkenntnis, die bei genauerer Betrachtung alles andere als eine Überraschung ist. Ganz im Gegenteil: Sie kommt eigentlich viel zu spät.
Pascal Groß: Zu lange vom DFB und Hansi Flick ignoriert
Denn in Fachkreisen war Groß bereits länger ein Thema für den DFB-Kader, einige hätten ihn gerne schon bei der Weltmeisterschaft in Katar gesehen, um die Lücke im defensiven Mittelfeld zu stopfen. Doch Flick verzichtete gänzlich auf jenen Spielertypen. Stattdessen machte er das, was ihm und auch schon seinem Vorgänger Joachim Löw stets vorgeworfen wurde - und setzte in seiner Schaltzentrale auf Altbewährtes wie eben Kimmich, Goretzka und Gündogan. Zudem traten jede Menge Offensivspieler die Reise in die Wüste an. Das viel zitierte Leistungsprinzip ignorierte er nicht nur in Groß' Fall gekonnt.
Nach der WM stieß dann Emre Can in Anbetracht der Diskussionen um die Dysbalance im Zentrum mit Kimmich und Gündogan nach starken Leistungen bei Borussia Dortmund zum Team dazu. Auch beim FC Bayern München wurde ob des Zusammenspiels zwischen Kimmich und Goretzka eine Debatte über eine fehlende "Holding Six" entfacht. Trainer Thomas Tuchel blieb der Wunsch nach einem solchen Spielertypen jedoch verwehrt.
Doch für Groß war die Tür zur Nationalmannschaft weiterhin zu. Wohl mit großer Wahrscheinlichkeit auch, weil er eben nicht in Deutschland, sondern bei einem verhältnismäßig unbekannten Klub in England spielt. Ganz egal, ob der gebürtige Mannheimer mit Brighton & Hove Albion zu dieser Zeit die Premier League Woche für Woche ins Staunen versetzte. Groß hatte die Nationalmannschaft sogar schon für sich abgehakt. "Im Fußball ist zwar alles möglich, aber ich habe da keine Hoffnung und sehe das realistisch", erklärte er im Herbst 2022 bei Sky.
Groß war vor sechs Jahren vom damaligen Bundesliga-Absteiger FC Ingolstadt zu Brighton gewechselt. Der Klub ist mittlerweile für seine auf den ersten Blick ausgefallenen Transfers bekannt. Inzwischen ist er unangefochtener Stammspieler und durch seine Abschlussqualitäten bei ruhenden Bällen sowie aus der Distanz zum Rekordtorschützen des Vereins seit Gründung der Premier League anno 1992 aufgestiegen.
"Ich bin absolut begeistert, er ist einer der besten Spieler, mit denen ich in meiner Karriere gearbeitet habe. Er ist eines der Geheimnisse des Erfolgs von Albion", erklärte Trainer Roberto De Zerbi bei der Vertragsverlängerung von Groß im April dieses Jahres bis 2025. Der Italiener hatte die Seagulls in der vergangenen Saison auf Platz sechs und damit erstmals in der Vereinsgeschichte in einen europäischen Wettbewerb geführt.
Julian Nagelsmann: Gilt jetzt das Leistungsprinzip?
Auch Nagelsmann erkannte an, dass Groß in Deutschland "seit Jahren ein bisschen unter dem Radar" geflogen sei. Womöglich ein kleiner, versteckter Seitenhieb gegen Flick, was auch eine weitere Aussage des neuen Bundestrainers vermuten lässt. "Die Chance hat jeder, es gilt das Leistungsprinzip", sagte er. Das hatte er schon bei der Nominierung seines ersten Kaders unter Beweis gestellt, als er unter anderem den derzeit formschwachen Emre Can nicht berücksichtigte.
Flick hatte Groß erst für die beiden Testspiele im September nominiert, als die Schlinge um seinen Hals schon beinahe zugezogen war. Dabei hatte Flick noch im Vorfeld angekündigt, künftig keine Experimente mehr machen zu wollen. Ironischerweise ließ er den zuletzt wiedererstarkten Goretzka im Gegenzug daheim.
Doch für Groß - der einzige Neuling im damaligen Kader - machte Flick eine Ausnahme, für die ihm Nagelsmann wohl schon jetzt dankbar ist. Wer weiß, ob Groß auch in seiner ersten Startelf gestanden hätte, wenn er gegen Japan und Frankreich nicht schon erste Argumente für sich hätte sammeln können.
Groß stabilisierte das DFB-Zentrum gegen die USA durch sein ruhiges und zuverlässiges Spiel auf eine Art und Weise, wie man es schon länger nicht mehr gesehen hatte. Er verlor keinen Zweikampf und brachte 93 Prozent seiner Pässe an den Mann. "Pascal ist ein sehr schlauer und intelligenter Fußballer, sehr schlau im Raum, im Binden von Gegenspielern, ist mutig und hat ein gutes Gegenpressing", erklärte Nagelsmann und schob vielleicht schon mit dem Gedanken an die EM nach, dass Groß auf vielen Positionen spielen könne.
Denn eines ist klar: Wenn Nagelsmann an seiner Idee mit zwei zentralen Mittelfeldspielern vor einer Viererkette festhält, ist die Anzahl der Plätze begrenzt. Und Argumente lieferte Groß genügend, dass dieses Modell ausgerechnet auf Kosten von Kimmich beibehalten wird.
Pascal Groß: Muss Joshua Kimmich jetzt bangen?
An Gündogan führt kein Weg vorbei. Schließlich kann und will Nagelsmann seinen Kapitän nicht auf die Bank setzen. Doch zugegeben, so richtig wahrscheinlich ist es nicht, dass der Bundestrainer künftig Kimmich für Groß opfert. Der 28-Jährige gilt bekanntlich als Liebling und wichtigster Ansprechpartner von Nagelsmann.
Deshalb wäre es denkbar, dass Groß in Zukunft in einer etwas anderen Rolle zum Einsatz kommt. Groß kann nämlich auch als rechter Verteidiger agieren. Eine Überlegung, die keineswegs utopisch wäre.
Schon gegen die USA hatte Nagelsmann seine Viererkette bei eigenem Ballbesitz aufgelöst und sein System auf ein 3-4-3 umgeformt. Linksverteidiger Robin Gosens rückte weit nach vorne, während Jonathan Tah, Mats Hummels und Antonio Rüdiger hinten absicherten. Mit Groß würde stattdessen das Zentrum verstärkt werden.
Pascal Groß: Julian Nagelsmann droht eine Zwickmühle
Wie er es schon häufiger bei Brighton zeigte, rückt Groß als rechter Verteidiger ins Zentrum, um dort eine Überzahl zu kreieren. "Er spielt es natürlich anders als Manfred Kaltz früher. Aber wenn man viel auf Ballbesitz setzt, kann das funktionieren", erklärte Brian Owen, der für das englische Medium The Argus Brighton Schritt für Schritt begleitet, kürzlich dem Portal watson. Obwohl Groß nicht der Schnellste sei, wisse er als "intelligenter Spieler, wie er sich zu positionieren hat".
Groß könnte nach Ballgewinn realtaktisch also Gündogan und Kimmich vor der Abwehrreihe absichern und sich gegen den Ball hinten rechts positionieren. "Im Mittelfeld fühle ich mich sehr wohl, aber je nach Spielsystem auch rechts hinten", sagte er auf einer Pressekonferenz kurz nach seiner ersten Berufung für die Nationalmannschaft.
Außerdem würde er nebenbei die Baustelle hinten rechts schließen. Im aktuellen Kader befindet sich kein gelernter Rechtsverteidiger. Tah, der gegen die USA auf der rechten Abwehrseite keine gute Figur machte, und Süle sind in der Innenverteidigung deutlich besser aufgehoben. Nagelsmann würde mit diesem Move also gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Um eine solche Systemänderung vorzunehmen, braucht es für gewöhnlich allerdings Zeit. Zeit, die Nagelsmann rund acht Monate vor der EM im eigenen Land jedoch nicht wirklich hat.
Wenn alle Spieler fit sind, droht Nagelsmann also eine erste große Zwickmühle in seiner noch kurzen Zeit beim DFB. Setzt er Groß auf die Bank, kann der Ex-Bayern-Coach kaum noch vom "Leistungsprinzip" sprechen.
EM 2024, Zeitplan: Die wichtigsten Termine
Datum | Event |
15. bis 17. Oktober 2023 | 8. Spieltag der EM-Qualifikation |
16. bis 18. November 2023 | 9. Spieltag der EM-Qualifikation |
19. bis 21. November 2023 | 10. Spieltag der EM-Qualifikation |
Dezember 2023 | Auslosung der EM-Gruppenphase in der Elbphilharmonie in Hamburg |
März 2024 | Play-Off-Spiele zur EM 2024 |
Freitag, 14. Juni 2024, 21:00 Uhr | Eröffnungsspiel der EM 2024 in München |
Mittwoch, 19. Juni 2024 | Zweites Gruppenspiel der DFB-Elf in Stuttgart |
Sonntag, 23. Juni 2024 | Drittes Gruppenspiel der DFB-Elf in Frankfurt |
Samstag, 29. Juni 2024 | Beginn der Finalrunde in Dortmund |
Sonntag, 14. Juli 2024, 21:00 Uhr | Finale der EM 2024 in Berlin |