"Schon Wahnsinn", sagte Murat. Der Redakteur einer türkischen Tageszeitung sah sich in der Mixed Zone der Türk Telekom Arena gemeinsam mit deutschen und türkischen Kollegen die Zusammenfassung des 3:1 der deutschen Nationalmannschaft in der Türkei an und machte dabei den Star des Spiels aus: "Wir haben Manuel Neuer nicht aufhalten können. Zwei Assists sind nicht übel."
Was für die Türkei die maßgeschneiderte Statistik zu einem qualvollen Abend war, dokumentierte aus Sicht der deutschen Mannschaft eines: Es läuft weiter wie geschmiert.
Das DFB-Team eilt zum neunten Sieg im neunten Spiel in der Qualifikationsgruppe A und damit zu einem einzigartigen Rekord in der DFB-Geschichte, der perfekt ist, wenn Belgien in Düsseldorf besiegt wird. "Es wird keine Überraschung geben", glaubt Guus Hiddink. Nicht nur aus Eigeninteresse erwartet der türkische Nationaltrainer einen gelungenen Quali-Abschluss der Deutschen.
Müller: "Spaß am Fußball"
Die deutsche Mannschaft bewies erneut, dass sie längst einer Leistungsklasse angehört, die Joachim Löws Truppe automatisch zu einem Titelaspiranten macht.
"Man hat die Unterschiede gesehen im taktischen und im athletischen Bereich zwischen meiner Mannschaft und Deutschland. Man hat gesehen, dass Deutschland schon lange so zusammenspielt. Sie ist einer der Topfavoriten für die EM", lobte Hiddink.
Im modifizierten 4-2-3-1, das über weite Strecken zum 4-1-4-1 mutierte, erspielte sich Deutschland ein Übergewicht, das sich insbesondere in der Einseitigkeit und den vielen Tormöglichkeiten nach der Pause äußerte. "Wenn wir mal im Spiel sind, macht es uns viel zu sehr Spaß, Fußball zu spielen, anstatt den Gegner gewähren zu lassen", so Thomas Müller im SPOX-Interview.
Der Spaß, den Fußball-Deutschland derzeit hat, kennt keine Grenzen und Nationaltrainer Löw hat in der Partie, die als erster großer Test vor der EURO 2012 herhalten durfte, viele wichtige Erkenntnisse gewonnen. Dass mit Toni Kroos und Mesut Özil zwei wichtige Fixpunkte der Mannschaft nicht auf dem Platz standen, fiel kaum auf - weil das Gesamtkonstrukt steht und Einzelpersonen kaum noch einen Ausschlag nach oben oder unten geben.
50. Sieg für Löw
Löw, der seinen 50. Sieg im 72. Spiel als Bundestrainer feierte, fand nur lobende Worte: "Ein großes Kompliment. Wir haben gegen gehalten in diesem Stadion und in dieser Atmosphäre. In der ersten Halbzeit war unser Spiel nicht besonders gut. Aber vor 50.000 Türken zu gewinnen gegen eine Mannschaft, die mit großer Motivation spielt."
Genau dies galt vor dem Spiel als mögliches Manko der deutschen Mannschaft und gleichzeitig als große Hoffnung des Gastgebers. Sollte die Mannschaft so einbrechen wie 2007, als man in der EM-Quali im letzten Spiel gegen Tschechien mit 0:3 verlor, oder wie 2009, als man gegen Finnland nur 1:1 spielte, weil sie ihr Ticket schon vorzeitig löste? Die klare Antwort gab die Mannschaft auf dem Platz.
"Der Trainer sorgt dafür, dass wir immer motiviert sind", sagt Müller. Sami Khedira pflichtet bei: "Man hat gesehen, dass wir das Spiel von Anfang an Ernst genommen haben, dass das kein Freundschaftsspiel oder sonst irgendwas für uns ist. Wir wollten diese drei Punkte unbedingt." Die Willenskraft personifizierte Bastian Schweinsteiger, der im Mittelfeld jeden Zweikampf in aller Härte aufnahm und nicht zurücksteckte, um Verletzungen zu vermeiden. Charaktertest? Bestanden.
Konkurrenzkampf um EM-Tickets
Es ist nicht etwa der Zehn-Siege-Rekord, der ein angenehmer und vor allem verdienter Nebeneffekt wäre, der die Mannschaft antreibt.
Vielmehr ist es die Lust an der Weiterentwicklung, aber auch der längst entfachte Kampf um die Plätze für den EM-Kader. "Jeder Spieler weiß, dass jedes Spiel eine Möglichkeit ist, Eigenwerbung zu betreiben. Deswegen gibt jeder Vollgas", sagte Mats Hummels zu SPOX, der gegen die Türkei auf der Bank saß und sich nun zumindest gegen Belgien einen Einsatz erhofft.
Dies gilt auch für viele andere junge Spieler wie Marco Reus, der im fünften Anlauf endlich sein Länderspiel-Debüt im Trikot mit dem Adler gab, auch wenn es nur ein paar Sekunden waren. Auch Andre Schürrle, der in Istanbul nur 28 Minuten für vier Torschussbeteiligungen benötigte, drängt in die Startelf.
"Hätten höher gewinnen können"
In der Anfangself von Istanbul stand Mario Götze, der für Özil spielte und pikanter Weise zur Auskunft gab, schon einen Tag vorher über seinen Einsatz informiert gewesen zu sein, während die Fußball-Welt noch über den Gesundheitsstand Özils spekulierte.
Zwar wirkte Götze ab und an zu verspielt, aber seine Genialität am Ball sucht seinesgleichen und der Dortmunder ist selbstkritisch genug: "Ich müsste vielleicht das eine oder andere Mal früher abspielen."
Dann hätte die deutsche Mannschaft auch vielleicht höher gewonnen. "Wir hätten die Türken nach dem 2:0 mit vier, fünf, sechs Toren nach Hause schicken können", so Löw.
Hamit Altintop rechnet ab
Doch alleine schon drei Gegentore haben genügt, um Hiddink nach dem Spiel an den Pranger zu stellen. Die türkischen Journalisten rechneten mit dem Niederländer, dem sie zu wenig Mut und zu viel Demut vor Deutschland attestierten, auf der Pressekonferenz fast schon persönlich ab, anstatt ihre Fragen zu stellen. Aber auch intern wurde schonungslos Kritik geäußert.
Hamit Altintop sorgte im Live-Interview mit dem türkischen Fernsehen für Aufsehen, als er seine Mitspieler öffentlich angriff. "In der Türkei wird leider körperlich nicht gut gearbeitet. Ich war sechs Monate verletzt. Hat man einen Unterschied zu den fitten Spielern gesehen?", wollte Real Madrids Neuzugang wissen, der zudem feststellte: "Wir haben zu viele Baustellen."
Der Umbruch, den Hiddink eingeleitet hat, läuft mit vielen Zwischengeräuschen ab, die zu einem Knall werden können, wenn am Dienstag die Türkei selbst die Playoffs verpassen sollte...
Türkei - Deutschland: Daten und Fakten zum Spiel