Wenn sich die Dortmunder Fußballer und Funktionäre nach dem turbulenten 3:2-Sieg am Samstag beim Namensvetter aus Mönchengladbach in der Mixed Zone durch das Tragen schwarz-gelber BVB-Klamotten nicht eindeutig als solche ausgegeben hätten, man hätte den einen oder anderen auch durchaus der Berufsgruppe der Metaller zuordnen können. Es wurde nämlich erstaunlich viel vom Schweißen geredet.
"Wann immer eine Gruppe schwere Situationen zu meistern hat, schweißt es sie noch mehr zusammen", sagte Roman Bürki und Thomas Tuchel erklärte: "Das schweißt auf einer Ebene zusammen, die man sonst normalerweise nicht hat." Gonzalo Castro befand derweil, dass die Mannschaft "enger zusammengerückt" sei, Sokratis nannte es "enger zusammengewachsen" und Tuchel bezeichnete die Erfahrungen, die der Verein machte, als "Klebstoff".
Es ging natürlich um die Verarbeitung des schweren Schicksalsschlags vom 11. April, des Attentats auf den Mannschaftsbus des BVB. Und die gemeinsame Reaktion darauf, die beeindruckte.
So beeindruckend war die Reaktion, dass sie Sportdirektor Michael Zorc gar zu anatomischen Verrenkungen animiert, wie er in der Bild erklärte: "Ich verneige mich vor der Mannschaft. Ich komme mit meinem alten Rücken gar nicht so tief runter, wie es für diese tolle Leistung erforderlich wäre." Auf der offiziellen Homepage des Vereins wurde die Leistung in Gladbach unterdessen mit einem Vergnügungspark-Besuch verglichen: "BVB fährt in Gladbach Achterbahn"
Emotionale Achterbahn
Emotionale Achterbahn fuhr der BVB aber nicht nur am Samstagabend in Gladbach, sondern bereits den ganzen April. Verschenkter Derby-Sieg auf Schalke, 3:0-Gala gegen Hamburg, 1:4-Klatsche beim FC Bayern, Attentat auf das Leben der Mannschaft samt darauffolgendem Spiel in Beinahe-Trance, emotionaler Sieg gegen Frankfurt, bitteres Champions-League-Aus in Monaco, gedrehtes Spiel in Gladbach.
In kürzester Zeit ist beim BVB erstaunlich viel passiert. Es wurde dabei gehadert, gejubelt, geweint, gehofft, getrauert - und in Gladbach wieder mal gelacht und sogar gegrölt. Endlich, könnte man meinen.
Pierre-Emerick Aubameyang war in der Kabine nach dem Sieg, der den BVB auf den fixen Champions-League-Startplatz drei beförderte, jedenfalls weder als Metaller noch als Fußballer gefragt, sondern vorrangig als DJ. Er drehte französischen Rap auf und die Mannschaft feierte.
Tuchel beschrieb die Stimmung als "ausgelassen" und genoss es, sich "wieder über Fußball freuen zu können". Bürki erzählte, dass er erstmals seit dem Attentat "echte Glücksgefühle" erlebt hätte. Er habe abgeschlossen, sagte der Torhüter, abgeschlossen mit der Vergangenheit: "Über das Geschehene möchte ich nicht mehr sprechen."
Reus und eine Festnahme als Verarbeitungshilfen
Gestärkt hat die Dortmunder bei der Vergangenheitsbewältigung, dass das Attentat nach tagelangem Rätselraten kurz vor dem Spiel in Gladbach schlussendlich aufgeklärt wurde, dass der vermeintliche Täter entlarvt und festgenommen wurde. "Das hilft uns sehr, das zu verarbeiten", sagte Tuchel schon vor dem Spiel und seine Mannschaft bestätigte mit einer laut Zorc "brutalen Willensleistung" die Worte ihres Trainers.
Erheblichen Anteil daran hatte auch Vize-Kapitän Marco Reus, der das Attentat wegen seiner Verletzung nicht im Bus miterlebte und seit seiner Rückkehr fußballerisch wie menschlich eine wichtige Rolle einnimmt. Er redet mit den jungen Spielern und sorgt außerdem für Entlastung auf dem Platz. Tuchel lobt Reus' "Freiheit und Lockerheit" und auch dessen "Ruhe und Biss" im Spiel. Reus macht Dortmund schwerer ausrechenbar und erzielte seit seiner Rückkehr außerdem bereits drei Tore.
Gefährliche Gefühls-Melange
Das zurückliegende Wochenende war in seiner Gesamtheit eine Befreiung für den ganzen Verein, der sich aus seiner Schockstarre gelöst hat. Ernsthafte sportliche Erwartungen verbieten sich nach dem Attentat in dieser Saison jedoch weiterhin von selbst. Diese Umstände schaffen eine Gefühls-Melange, die den BVB gefährlich macht.
Im Pokal-Halbfinale trifft Dortmund auf einen Verein, der sich in einem gänzlich konträren Zustand befindet und gerade eine erhebliche Sinnkrise durchlebt. Dem FC Bayern ist die Meisterschaft so gut wie sicher, in der Champions League sorgte das Aus für Wut, Trauer, Unverständnis und letztlich Leere und der DFB-Pokal ist aus Münchner Sicht eben immer noch nur der DFB-Pokal.
Trotzdem hat er auf einmal eine große Bedeutung für die Bayern und auch deren Trainer Carlo Ancelotti, eine größere, als es den Bayern und Ancelotti eigentlich lieb ist. Und gleichzeitig eine genau so große, wie sie dem BVB ganz und gar lieb ist. "Ich glaube, dass der Druck für Bayern wesentlich größer ist als für uns", meint Kapitän Marcel Schmelzer. "Die Bayern haben auf jeden Fall mehr zu verlieren als wir", sagt Tuchel und meint: "Wir können ihnen die Saison vermiesen."
Beschleunigung eines Entwicklungsprozesses
Vor knapp zweieinhalb Wochen stand Tuchel noch in der Mixed Zone der Allianz Arena, in der er den Bayern am Mittwochabend nun die Saison vermiesen will, und sagte nach einer Machtdemonstration der Münchner, die in einem 1:4 resultierte: "Wir hatten keine Chance, den Bayern auf diesem Niveau Paroli zu bieten. Diese Aufgabe ist zu schwer in dieser Umbruchssaison." Schmelzer sprach von "Lehrgeld" und Bürki kritisierte, dass die Mannschaft "zu hektisch" gewesen sei.
"Das Spiel fühlt sich ewig weit weg an", sagt Tuchel jetzt aber, "weil dazwischen so viel passiert ist." Mit den Erfahrungen der vergangenen zwei Wochen wird das Dortmunder Spiel nicht mehr an überbordender Hektik scheitern. Der Verein an sich und die Mannschaft im speziellen wurden wie selten zuvor auf die Probe gestellt - und stellten sich ihr mit Geduld und Unnachgiebigkeit. Exemplarisch dafür steht der zurückliegende Auftritt in Gladbach. Von einem verletzungsbedingten Wechsel bis hin zu einem zwischenzeitlichen Rückstand wurden dem BVB schwierige Aufgaben gestellt - die er allesamt löste.
Dortmund hat im zu akuter Floskellastigkeit neigenden Fußball-Geschäft die so oft zitierte Moral tatsächlich bewiesen. "Ich bin stolz auf den Charakter dieser Mannschaft", sagt Zorc. Eben dieser Charakter wurde im Laufe der Saison jedoch bereits des öfteren in Frage gestellt, wenn auf konsequente Leistungen in Top-Spielen unerklärlich inkonsequente in Alltags-Spielen folgten.
Zurückgeführt wurde das oftmals auf die junge, unerfahrene Mannschaft, deren Entwicklungsprozess durch den Umgang und die Verarbeitung dieses Aprils aber sicherlich beschleunigt wird. Womöglich leistet die aktuell befreite Atmosphäre im Verein sogar einen Beitrag, den zweieinhalb Wochen zuvor noch übermächtigen FC Bayern im DFB-Pokal-Halbfinale zu besiegen und diese schwer zu fassende Saison in weiterer Folge letztlich gar mit einem Titel zu krönen.
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