Schlüsselsituation. Ein viel bemühtes Wort bei der Analyse von Fußballspielen. Diese Szene in der 63. Minute des Pokalhalbfinals zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund am Mittwochabend in der Allianz Arena taugt jedoch allemal für besagte Klassifizierung.
Roman Bürki spielt im eigenen Sechzehner einen schlimmen Fehlpass. Anstatt wie geplant vor die Füße von Weigl schiebt er den Ball genau vor die von Thiago. Dieser spitzelt zu Robert Lewandowski. Etwas zu langes Zögern. Kein Problem, Pass auf Arjen Robben. Der Niederländer dreht sich einmal und zieht aus sieben Metern mit dem linken Vollspann ab.
FCB und BVB in der Einzelkritik: Der Kapitän bringt das Schiff zum Sinken
Doch er hat die Rechnung ohne Sven Bender gemacht. Der steht nämlich noch auf der Linie und lenkt den Ball - wie auch immer - noch an den Pfosten. Es ist nicht das 3:1. Stattdessen feiern die Dortmunder wie bei einem eigenen Torerfolg, pushen sich, schreien sich an. Im positiven Sinne.
"Wenn Du vorne die Tore nicht schießt..."
"Da hat man richtig gemerkt", analysierte ein geknickter Mats Hummels später in der Mixed Zone, "dass bei ihnen der Glaube wieder aufkommt." Beinahe resigniert klang die Stimme des Ex-Borussen, als er anfügte: "Das ist der Klassiker: Wenn du vorne die Tore nicht schießt, dann fängst du dir irgendwann einen ein."
Bis zur 61. Minute hatte jener Hummels gegen seinen alten Verein ein überragendes Spiel gemacht, zweimal in höchster Not gegen Aubameyang geklärt, eine Weltklasse-Grätsche gegen Dembele angesetzt, vor dem 1:1 den Weg freigeblockt, das 2:1 selbst erzielt. Besser geht kaum. Doch er zahlte Tribut für die letzten Tage und Wochen, in denen er sich komplett durchschleppte und musste raus.
Also sah er die Schlüsselszene nur noch von der Bank aus. Den Wendepunkt der Partie. Fortan waren die Schwarz-Gelben nämlich wieder im Spiel. Und zehn Minuten später stand es nicht 3:1, wonach es bei Robbens Gelegenheit aussah, nein, es stand 2:3 aus Sicht der Münchner.
Robben und Dortmund
Arjen Robben und Borussia Dortmund. Eine unendliche Geschichte, der das Pokalhalbfinale 2017 ein weiteres Kapitel hinzufügte.
Der BVB hatte den Niederländer in der ersten Halbzeit im Griff, weil er im 4-4-2 diszipliniert gegen die Nummer 10 verteidigte. Im Verbund aus Marcel Schmelzer, Sven Bender, Julian Weigl und Raphael Guerreiro.
Die Stimmen zum Spiel: "Meisterschaft noch weit weg"
Nach der Pause kamen sie dann zwar doch noch, die Robben-Chancen. Doch er scheiterte immer wieder. An Bender. Am Pfosten. An Bürki.
Robben: "Selbst schuld"
"Es ist eine Riesenenttäuschung, aber letzten Endes sind wir selbst schuld", gab Robben im Bauch der Arena mit gesenktem Kopf zu. "Wir hätten es heute selbst entscheiden können. Wir haben Fehler gemacht und vorne nicht die Tore geschossen."
Sechs Torschüsse gab Robben am Ende ab - mehr als die Hälfte des Wertes der gesamten Dortmunder Mannschaft (elf). Auch in der 86. vergab er noch einmal freistehend gegen einen glänzend reagierenden Bürki. Es sollte nicht sein.
Er stand stellvertretend für das Münchner Spiel: überlegen, aber eben nicht effizient genug. Und in den entscheidenden Momenten nicht mit dem nötigen Glück ausgestattet.
Rummenigge: "Niederlage tut weh"
"Wir brauchen nicht drum herumreden: Die Niederlage tut weh", sagte auch Karl-Heinz Rummenigge, als er neben einem bedrückten Uli Hoeneß durch die Mixed Zone stapfte. "Die erste Halbzeit war mit das Beste, was ich hier in dieser Saison gesehen habe. Wenn du es dann trotzdem verlierst, bist du natürlich enttäuscht."
Die Münchner fragten sich geschlossen, wie sie diese Partie verlieren konnten. Sie spielten nicht blutleer wie zuletzt in der Liga, sondern schafften es, den Wettkampfmodus abzurufen, den sie in dieser Saison beinahe immer in den großen Spielen bemühten.
Die Niederlage hatte ihre Wurzeln nicht in der Einstellung, auch nicht in taktischen Mängeln.
Knapp 70 Prozent Ballbesitz, 24:11 Torschüsse, zweimal Aluminium - am Ende war das Ausscheiden zu großen Teilen mit Pech zu erklären. Aber auch mit Unvermögen im Abschluss. Und mit einigen fatalen, individuellen Fehlern wie Martinez' Schnitzer vor dem 0:1. Oder Philipp Lahms Ballverlust vor dem spielentscheidenden 2:3.
Lahms Karriere endet nicht in Cardiff und nicht in Berlin
Dass ausgerechnet Mister Zuverlässig im letzten Pokalspiel seiner Karriere keine gute Figur machte, passte ins unglückliche Bild des Münchner Aprils. Der Kapitän war an allen Gegentoren mitbeteiligt: zögerlich beim 0:1, schlecht kommuniziert vor dem 2:2, Ballverlust vor dem 2:3.
Die Klubikone hat nun also nur noch vier Pflichtspiele vor der Brust. Seine Karriere endet nicht nur nicht in Cardiff, sondern nun auch nicht in Berlin. Mit einer Schale wahrscheinlich schon, aber nicht zusätzlich mit einem Pokal.
Vor dem April waren die Bayern noch zuversichtlich, in allen Wettbewerben anzugreifen und mindestens die beiden nationalen zu gewinnen. Nach acht von neun gespielten Partien im Schicksalsmonat ist die Bilanz ernüchternd: zwei Siege, zwei Remis, vier Niederlagen. Freilich aus verschiedenen Gründen, manche waren nicht zu beeinflussen. Aber: Die Meisterschaft ist so gut wie sicher, die Champions League und der Pokal dagegen futsch.
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Ein Monat, in dem sich die Ancelotti-Truppe in einen Rausch spielen wollte, ist zum Wochen andauernden Kater geworden.
Glas-halbvoll-Mentalität
Lahm versuchte sich noch irgendwie in einer Glas-ist-halbvoll-Mentalität, als er sagte: "Ich weiß nicht, ob es zu wenig ist. Das werden wir uns in den kommenden Tagen durch den Kopf gehen lassen. Heute überwiegt einfach die Enttäuschung. Es ist aber nie eine schlechte Saison, wenn man einen Titel gewinnt. Es ist auch keine Selbstverständlichkeit, dass man jedes Jahr Meister wird, der Meinung bin ich immer noch."
Allerdings war allen Protagonisten in den Katakomben deutlich anzumerken, dass der Schock nach zwei verpassten Titeln tief sitzt. Schwer vorstellbar, dass die Feier mit der Meisterschale in drei Wochen nach dem abschließenden Heimspiel gegen den SC Freiburg allzu ausgelassen sein wird.
Wenngleich die Münchner auch 2015 "nur" mit dem Meistertitel da standen, erinnerte die Stimmung noch eher an die Situation im Jahr 2012.
Damals peitschte das Vize-Triple die Münchner so sehr an, dass das Jahr der Allesgewinner 2013 folgte. Dank eines gestärkten Teamgeistes. Aber auch dank personeller Konsequenzen. Stichwort Matthias Sammer.
Welche Konsequenzen das letztlich - und das gaben alle Protagonisten freimütig zu - enttäuschende Saisonende 2017 haben wird, wollte Rummenigge nicht vorhersagen: "Das ist kein guter Abend, um über die Zukunft nachzudenken. Jetzt muss man erstmal in Ruhe die Wunden lecken. Und wenn irgendwann der Zeitpunkt gekommen ist, wird man sich über die Zukunft Gedanken machen."
FC Bayern München - Borussia Dortmund: Die Statistik zum Spiel