Dieser Artikel wurde im März 2020 veröffentlicht.
Im ausführlichen Interview mit SPOX und Goal blickt der heute 29-Jährige auf all diese Episoden zurück. Kirchhoff spricht über die Verletzungsseuche, den England-Aufenthalt und die Zeit der Vereinslosigkeit - erklärt aber auch, wie er seit seiner Genesung Kapitän beim KFC geworden ist.
Kirchhoff äußert sich zudem zu eigenen Fehlern, einem möglichen Karriereende, zur Arbeit unter Thomas Tuchel und Pep Guardiola sowie zu seiner Zukunft als Trainer.
Herr Kirchhoff, Sie sind im Laufe Ihrer Karriere immer wieder von Verletzungen geplagt worden, haben aber dennoch nie aufgegeben. Mittlerweile sind Sie Kapitän und Leistungsträger beim KFC Uerdingen in der 3. Liga und kommen dort auf die meisten Einsätze seit Jahren. Haben Sie gesundheitlich gesehen jetzt Ihren persönlichen Weg gefunden?
Jan Kirchhoff: Ja, auch wenn es etwas sehr Individuelles und nur zum Teil reproduzierbar für andere Sportler ist. Im Nachhinein gesehen habe ich ihn leider zu spät gefunden. Hätte ich mich früher so intensiv damit beschäftigt und über meine Karriere hinweg gesünder gelebt, wäre ich hundertprozentig häufiger fit gewesen. Meine Schädigungen an Achillessehne und Knie kann ich damit nicht mehr rückgängig machen. Rein muskulär fühle ich mich nun aber deutlich besser.
Was hat Ihnen am meisten geholfen?
Kirchhoff: Vor allem die Umstellung der Ernährung. Ich war oft übersäuert, weil ich zu viel Fleisch gegessen, falsche Sachen getrunken und mich nicht wirklich damit beschäftigt habe. Beispielsweise auch mit meiner Magen-Darm-Gesundheit, die nach hohen Belastungen immer etwas gestreikt hat. Ich habe viele Dinge als normal hingenommen, die aber eigentlich nicht normal sind. Gerade in meiner vereinslosen Zeit habe ich mich diesen Themen gewidmet und gemerkt, dass vieles nicht so sein muss, wie es bei mir war. Seitdem ich mich anders ernähre und supplementiere, habe ich gewisse Probleme wie Muskelkater nicht mehr.
Haben Sie da externe Hilfe herangezogen oder sind Sie von allein auf diese Veränderung gekommen?
Kirchhoff: Bei mir hat es meinen ehemaligen Mitspieler Dennis Aogo gebraucht, der sich wie ich mit Achillessehnenproblemen herumplagte. Er rief mich an und fragte, welche Erfahrungen ich mit Achillessehnen-Operationen gemacht habe. Ich riet ihm, eine OP zu machen, weil es einem danach gut geht. Ein halbes Jahr später habe ich ihn getroffen und er meinte, er hat die OP doch nicht gemacht, sondern seine Ernährung umgestellt und den Säure-Basen-Haushalt in den Griff bekommen. Dadurch ist die Entzündung verschwunden.
Und Sie dachten: Das versuche ich jetzt auch einmal.
Kirchhoff: Genau - und plötzlich waren auch meine Schmerzen weg. Bald konnte ich härter trainieren und auch der Muskelkater kam nicht mehr. Ich habe mich schließlich immer mehr in das Thema vertieft, mich bei jeder Gelegenheit umgehört und mit Fitnesstrainern oder Chiropraktikern zusammengearbeitet. In der vereinslosen Zeit hatte ich zum Beispiel viel mit MMA-Kämpfern oder Crossfittern zu tun, die extrem hart trainieren. Ich habe all diese Einflüsse gebündelt und nach dem Trial-and-Error-Prinzip geschaut, was davon für mich passt.
Ginge es überhaupt, den Spieler und Menschen Jan Kirchhoff, der er heute ist, ohne seine Verletzungshistorie zu verstehen?
Kirchhoff: Nein. Das ist ein Teil von mir und es wäre schlimm, würde ich noch derselbe sein wie vor den Verletzungen. Ich habe daraus Lehren gezogen und bin als Mensch gereift. Aber natürlich hätte ich am liebsten darauf verzichtet und meine Karriere hätte einen steilen Weg nach oben genommen.
Was genau haben Sie daraus gelernt?
Kirchhoff: Rein von der Persönlichkeitsstruktur her ist man als junger Mensch in diesem Fußball-Geschäft sehr von sich überzeugt und glaubt, man wüsste bereits alles. Ich dagegen war in den letzten zehn Jahren gezwungen, mich selbst zu hinterfragen, weil ich echt oft auf die Schnauze gefallen bin und es häufig einen Schritt zurückging. Ich habe teils auch nicht verstanden, warum das so ist. Ich musste mich dann immer wieder neu reflektieren und ordnen, mir Gedanken machen, was ich möchte und wie ich mich motiviere, damit ich mein nächstes Ziel auch erreiche.
Haben Sie sich bei diesem Reflexionsprozess auch bei anderen Disziplinen bedient?
Kirchhoff: Ich lese generell viel. Mich begeistern vor allem japanische Autoren. Dort hat man eine andere Herangehensweise an die Begriffe Glück und Zufriedenheit als bei uns Europäern. Ich habe das Gefühl, dass es in Deutschland viel um materielle Dinge geht: wie viel Geld man verdient oder wie erfolgreich man im Beruf ist. In Japan steht eher im Vordergrund, im Einklang mit sich selbst zu sein, sich Auszeiten zu nehmen oder die Natur zu spüren. Mir ist wichtig, eine innere Zufriedenheit zu erreichen. Dafür ist Literatur hilfreich, aber auch Gespräche mit Eltern, Freunden und all denen, die das eigene Sichtfeld erweitern können.
Welche Rolle spielte die Auslandserfahrung?
Kirchhoff: England war die tollste Erfahrung, die ich im Fußball gemacht habe. Es war richtig schön, in ein anderes Land zu kommen, die Sprache zu perfektionieren und neuen kulturellen Input zu bekommen. Ich habe das extrem genossen. Ich muss auch sagen, dass mich die in Deutschland teils hohen Erwartungshaltungen oder die Suche nach dem berühmten Haar in der Suppe ein Stück weit belastet haben. Die Engländer sind entspannter, fröhlicher und respektieren den Sportler deutlich mehr. Gerade das erste halbe Jahr beim AFC Sunderland habe ich sehr genossen, anschließend suchten mich wieder die Verletzungen heim.
Wie schwierig war es zwischenzeitlich, sich mit Ihrem Schicksal anzufreunden?
Kirchhoff: Sehr. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man als Fußballprofi viele Dinge als Selbstverständlichkeit ansieht. Man denkt nicht jeden Tag daran, wie glücklich man sich eigentlich schätzen müsste, dass man Teil dieses Geschäfts ist. Ich hatte ehrlich gesagt auch eine Zeit lang keinen Bock mehr darauf und keine Motivation. Ich habe dann nicht mehr so viel in meinen Beruf investiert, um erfolgreich zu sein, sondern habe es als reinen Beruf und nicht mehr als echten Leistungssport gesehen. Es war damals Normalität, dass ich Teil davon bin.
Haben Sie nie gehadert oder gesagt: Diese Quälerei macht keinen Spaß mehr?
Kirchhoff: Ich musste schon immer und auch früh Widerstände überwinden. Mit 13 hatte ich chronisches Asthma, mit 14 musste ich ein Jahr lang wegen Schmerzen an der Patellasehne aussetzen. Mir war daher von Anfang an klar, dass es immer nur an mir liegt und ich die Fehler nicht bei anderen suche. Ich habe von mir stets das Höchste erwartet, aber auch daran geglaubt, dass ich es zu leisten imstande bin. Ich käme nie auf den Gedanken, dass Vereine falsche Entscheidungen getroffen haben oder irgendwelche Trainer doof waren.
Hätten Sie sich damals vorstellen können, wie zuletzt in Liga zwei oder drei zu spielen?
Kirchhoff: Nein. Ich hatte Angebote aus diesen Ligen, lehnte aber ab, weil ich dachte, dass ich das nicht machen müsste. Das hat sich in dem Moment gedreht, als ich das erste Mal ein halbes Jahr komplett raus war und tun und lassen konnte, was ich wollte. So musste die Motivation aus mir selbst entstehen: Will ich überhaupt noch Teil davon sein und mich zurückkämpfen oder nicht? Irgendwann entschied ich, dass ich diese Frage bejahe, weil ich einfach Leistungssportler bin.
Nach Ihren Stationen bei Sunderland und den Bolton Wanderers waren Sie 2017 und 2018 jeweils für ein halbes Jahr ohne Verein. Wie froh waren Sie, auch einmal aus dem Hamsterrad des Profifußballs herausgekommen zu sein?
Kirchhoff: Total. Ich habe diese Zeit unfassbar genossen. Im ersten Moment habe ich gar nichts vermisst. Ich konnte trainieren wie, wann und wo ich wollte und war nicht in diesem 24/7-Job gefangen, der selbst am Wochenende nicht pausiert. Ich bin mit meinen Freunden um die Häuser gezogen und konnte zu Geburtstagen an den Tagen gehen, an denen sie auch wirklich waren. (lacht) Trotzdem fehlte mit der Zeit etwas. Es war schlicht eine ganz andere Motivation. Zuvor, gerade am Ende von Sunderland, war es fast so, als in Anführungszeichen musste ich den Job sozusagen machen. Nun aber war ich aus mir selbst heraus motiviert und nicht deshalb, um mehr Geld zu verdienen oder in der Bundesliga zu spielen.
Wie haben Sie in dieser Zeit auf das Geschäft geblickt?
Kirchhoff: Wenn man drinsteckt, ist ein großer Teil des Daseins als Fußballprofi mentaler Stress: sich gegen öffentliche Wahrnehmungen zu wehren, die große Erwartungshaltung innerhalb des Vereins, der Druck, jeden Tag Leistung bringen zu müssen. Mentale Kraft und Ausgeglichenheit werden von vielen vergessen, gehören aber unbedingt zum Berufsbild. Als ich von außen draufblickte, habe ich vieles davon nicht mehr so ernst genommen - und das hat mir langfristig geholfen.