SPOX: Herr Boldt, bei der U-21-EM in Israel stehen "nur" zehn Klubs aus der ersten und zweiten deutschen Bundesliga auf der Liste der anwesenden Scouts. Warum so wenig?
Jonas Boldt: Das ist schwer zu sagen, weil es eine grundsätzliche Entscheidung eines jeden Klubs ist. Vielleicht haben manche nicht die Kapazitäten, stehen in der Scouting-Abteilung vor einem Umbruch oder priorisieren einfach anders. Auch möglich ist, dass man sagt, Teams wie Deutschland, Spanien oder Italien sind uns bereits bekannt und nicht mehr bezahlbar.
SPOX: Inwiefern ist es für Bayer Leverkusen dagegen eine Selbstverständlichkeit, in Israel zu scouten?
Boldt: Für uns ist es ein Pflichtturnier, weil die U 21 ja sehr nah an den Lizenzbereich heranreicht. Man hat hier sehr greifbare Themen auf hohem Niveau, dazu wird derzeit in den meisten Ligen kein Fußball gespielt.
SPOX: Wann fiel denn bei Bayer die Entscheidung, nach Israel zu fliegen?
Boldt: Mit Festlegung des Spielzeitraums. Das war vor gut eineinhalb Jahren. Für uns ist klar, dass wir die U-21-EM, U-20-WM sowie die U-19-EM immer besetzen. Wir machen bei einer U-17-Weltmeisterschaft auch mal Abstriche, weil es für die Spieler dort eben auch noch ein sehr weiter Weg bis in den Profibereich ist.
SPOX: Wie lange werden Sie hier sein und welches konkrete Ziel verfolgt Bayer in Israel?
Boldt: Das Ziel ist immer ein Namensfundus, wobei der bei der U 21 gar nicht mehr so existiert, da die meisten Spieler bereits bekannt sind. Man hält sich auf dem Laufenden, verfolgt die Entwicklung der Akteure und löst vielleicht auch mal einen Handlungsbedarf aus. Ich bin seit Turnierstart hier, kann aber nicht genau sagen, wie lange ich bleibe, weil das immer auch im Verhältnis zu anderen Themen steht, die parallel ablaufen.
SPOX: Wie viele Spiele werden Sie sich hier ansehen?
Boldt: Ich habe fast alle geschafft, nur Holland gegen Russland nicht. Die Niederländer kennen wir alle bereits und es war mir wichtiger, Deutschland gegen Spanien im direkten Duell zu beobachten. Es ging bei dieser Partie darum, wie sich eine Mannschaft oder der einzelne Spieler unter Druck verhält.
SPOX: Wie sieht die Arbeit im Stadion für Sie aus?
Boldt: Der klassische Fall: Man ist zeitig da, besorgt sich die Aufstellung, interpretiert diese und plauscht auch mal mit den Kollegen. Wenn das Spiel läuft, hat jeder seinen eigenen Weg. Manch einer beobachtet mehr und wartet ab, der andere schreibt direkt sehr viel. Wieder andere schreiben gleich sehr sauber und benutzen ihr Buch als zweite Datenbank. Es gibt auch Scouts, die ihre Erkenntnisse auf die Aufstellung schmieren und das dann transportieren. Wenn ein Spieler aufgefallen ist, schaut man sich auch manchmal in der Halbzeit Videos an und sieht nach, wie er sich in anderen Spielen präsentiert hat, um den eigenen Eindruck zu hinterfragen.
SPOX: Und wenn man vom Stadion zurückkehrt, pflegt man die gewonnenen Erkenntnisse in die Datenbank ein?
Boldt: Genau, wobei es auch Möglichkeiten gibt, das bereits im Stadion zu tun. Das kann aber wiederum auch ablenken. Unsere Datenbank ist selbst entwickelt, wir sind nicht abhängig von einem Dienstleister. Wir können daher auch sozusagen offline die Dinge notieren und sie per Email versenden, damit sie dann von anderen Mitarbeitern schablonenhaft ins System eingepflegt werden können. Ich persönlich lasse das Gesehene auch gerne erst einmal etwas sacken, weil es ja vorkommen kann, dass man selbst emotional euphorisiert wird.
SPOX: Wie wichtig ist denn die Live-Sichtung im Vergleich zur Analyse vor dem Fernseher?
Boldt: Ganz entscheidend. Die Video-Sichtung ist ein hochinteressantes Tool, um schneller zu sein oder Kosten zu sparen. Sie ersetzt aber in keiner Weise eine Live-Sichtung. Bei Bayer Leverkusen gab es und wird es niemals einen Spieler geben, der nicht live gesichtet wurde. Man hat live seinen eigenen Blick und ist nicht von der Kamera abhängig. Das ist gerade beim Spiel ohne Ball von Defensivakteuren entscheidend. Hinzu kommt die Atmosphäre: Wie reagiert ein Spieler vor 50.000, wie vor 80.000 Zuschauern, wie auf Hitze, wie auf Kälte?
SPOX: Eine WM- oder EM-Endrunde im Senioren-Bereich ist für viele Scouts nur bedingt interessant, da die Preise während eines solchen Turniers zumeist explodieren. In welchen Dimensionen bewegen wir uns hier in Israel, was die Finanzierbarkeit der Spieler angeht?
Boldt: Bei den großen Nationen ist die Finanzierung natürlich schwierig, bei Spanien spielen ja beispielsweise Spieler aus Barcelona und Madrid mit langfristigen Verträgen. Grundsätzlich ist es eine Frage der Idee des einzelnen Klubs. Was braucht man im Moment oder wie möchte man sich zukünftig ausrichten? Auch wenn es immer Ausnahmen gibt, ist eine Senioren-WM- oder EM-Endrunde für Bayer Leverkusen nahezu nicht mehr realistisch. Dazu ist es wichtig, die Gesamtentwicklung des Fußballs zu verfolgen. Auch ein Champions-League-Endspiel kann einem Scout helfen, Tempo, Spielideen oder Drucksituationen einzuschätzen, ohne dort gleich einen Spieler verpflichten zu wollen.
SPOX: Wie ist das Scouting-Team von Bayer eigentlich personell aufgestellt?
Boldt: Wir haben Rudi Völler als Sportchef. Michael Reschke ist Kadermanager, der die Verträge mit den Spielern vorbereitet. Dann komme ich als Leiter der Scouting-Abteilung. Ich sage bewusst Leiter, weil wir darin verschiedene Bereiche abdecken. Ob das nun Gegner-Scouting, Lizenzscouting, Nachwuchsscouting, Videoscouting oder Leihspielerbetreuung ist - das gehört alles zum Scouting dazu. Einen klassischen Chefscout gibt es bei Bayer Leverkusen nicht.
SPOX: Bei anderen Vereinen dagegen schon.
Boldt: Es gibt bei uns keinen, der allwissend ist. Sicherlich trage ich mehr Verantwortung als ein einzelner Scout, dafür trägt Rudi Völler wiederum mehr Verantwortung als ich. Ich treffe die Entscheidungen, was unser Scouting-Personal angeht. Es ist aber nicht so, dass alles, was ich über einen Spieler sage, gesetzt ist. Mein Team besteht aus sehr kompetenten Leuten, die teilweise auch deutlich älter sind und schon länger im Fußball arbeiten. Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.
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