Thesen zum EM-Finaleinzug Italiens nach Elfmeterschießen gegen Spanien: Azzurri müssen leiden, um zu triumphieren

Filippo Cataldo
07. Juli 202108:30
SPOXgetty
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Italien steht nach dem 5:3 i. E. gegen Spanien im Finale der Europameisterschaft. Spanien dominierte zwar Spiel und Gegner, doch nach einer Szene vor Beginn des Elfmeterschießens war klar, wer der Sieger sein würde. Die Thesen zum Spiel.

Azzurri müssen leiden, um zu triumphieren

"Italien wollte in der Verlängerung nur ins Elfmeterschießen, wir wollten noch 30 Minuten weiterspielen. Ich denke, das hat man gesehen", sagte Spaniens Trainer Luis Enrique bei der Pressekonferenz nach dem Halbfinale. Treffende Analyse, jedoch fehlte da noch das Warum. Denn: Die Azzurri wollten ins Elfmeterschießen, weil sie wussten, dass sie das gewinnen würden.

Das dürfte auch den Spaniern geschwant haben, als Giorgio Chiellini sich bei der der Seitenwahl mit kindlicher Freude empörte, weil Spaniens Kapitän Jordi Alba fälschlicherweise annahm, er hätte die Seitenwahl gewonnen. Chiellini verpasste Jordi Alba einen freundschaftlichen sanften Hieb, was sogar das Schiedsrichtergespann um Felix Brych zum Lachen brachte. Jordi Alba fands nicht ganz so entspannt. Chiellini gewann dann auch noch die zweite Wahl und stellte sich gut gelaunt zu den Seinen. Von denen dürften nur wenige die Szene mitbekommen haben, es wäre also überhöht zu sagen, Italien hätte in diesen Momenten der Albernheit das Elfmeterschießen gewonnen. Aber die Szenen sagten viel aus über den geitigen Zustand der Azzurri. Elfmeterschießen haben schon auch was mit Glück zu tun, wie Experte und Elfmeterschießenveteran Bastian Schweinsteiger in der ARD gewohnt scharf analysierte, aber Elfmeterschießen gewinnt man eben schon auch und vor allem im Kopf.

Selbst als Unai Simon Italiens ersten Elfmeter von Manuel Locatelli hielt, "sind wir alle ruhig geblieben. Wir wussten, dass wir es schaffen können", sagte Federico Chiesa, der nach einer Stunde zum 1:0 schlenzte und langsam zum italienischen Wembley-Schützen vom Dienst wird; schon gegen Österreich im Achtelfinale hatte Chiesa in der Verlängerung das 1:0 erzielt.

Das schier unerschöpfliche Selbstvertrauen dieser Azzurri hat viel mit jenem Achtelfinale zu tun. Nachdem Italien durch die Vorrunde geflogen war und nach einer sehr guten Halbzeit gegen Österreich waren die Azzurri in der zweiten Halbzeit plötzlich regelrecht implodiert. Die Mannschaft reagierte auf jeden österreichischen Ballgewinn noch hysterischer, plötzlich schien sie das Vertrauen in ihre Stärke - und in das System von Trainer Roberto Mancini - verloren zu haben. Vor der Verlängerung weckte Mancini die Spieler wieder auf. Andere Teams wären an so einem Rückschlag zerbrochen, die Azzurri wuchsen daran.

Auch der Schock nach dem Achillessehnenriss von Lorenzo Spinazzola, bis dahin der beste Außenverteidiger des Turniers, scheint bei den Azzurri eher noch mehr Motivation und noch mehr Kräfte freigesetzt zu haben.

Als Mancini nach dem Elfmeterschießen-Thriller gegen Spanien sagte, "wir wussten, dass wir heute leiden mussten" und Abwehrkante Leonardo Bonucci zugab, "Spanien hat uns heute dominiert, uns hat noch nie eine Mannschaft so in Schwierigkeiten gebracht", klang bei beiden im Subtext ein "na, und?" mit.

Vielleicht auch ein "endlich." Denn es ist ja so: Die Azzurri haben schon immer das große Drama gebraucht, um erfolgreich zu sein. Frag nach bei Zinedine Zidane.

Diese Klasse von 2021 mag sich wegen ihrer Art, Fußball zu spielen, zum EM-Favoriten aufgeschwungen haben, doch den Titel gewinnen wird sie am Ende eben auch, weil sie ihre eigene Hysterie überwunden hat, den Verlust ihres besten Spielers verdaute und gegen Spanien leiden (und zwischendurch gegen Belgien noch ein bisschen schauspielern) musste. Diese Azzurri vermitteln ein Gefühl der Unerschütterlichkeit, spätestens jetzt haut sie nichts und niemand mehr um.

Luis Enrique ist der richtige Mann am richtigen Ort

Luis Enrique musste bei dieser EM liefern, Spaniens Coach stand schon vor Turnierbeginn unter Druck, nach zwei Spielen und zwei Unentschieden in der Vorrunde schien er schon so gut wie entlassen. Doch Luis Enrique lieferte und Spanien gleich mit.

In Italien wird den Azzurri unter Roberto Mancini nachgesagt, "spanisch" zu spielen, weil Mancini in der Regel eben auch ein wenig auf Ballbesitz achtet und auf gepflegte Pässe besteht. Doch spätestens in diesem Halbfinale zeigten die Spanier, dass eben immer noch sie Spanien sind.

Fabelhafte 908 Pässe hatte die Mannschaft von Luis Enrique am Ende der Verlängerung gespielt, 86,7 Prozent waren beim Mitspieler angekommen. Bei Italien waren es 387 Pässe (74,2 Prozent erfolgreich). Bei den Schüssen fiel die Bilanz mit 16:7 für Spanien aus, bei den gewonnenen Zweikämpfen 48 zu 44.

Italien - Spanien im Datenvergleich

ItalienStatistikSpanien
7Schüsse16
1Ecken6
17Fouls18
44Gew. Zweikämpfe48
387Pässe908
74,2%Erfolgreiche Pässe88,7 %
29,9 %Ballbesitz70,1 %

Kurz: "Spanien hat uns heute dominiert", wie Bonucci sagte. Vor allem aber hatten seine Italiener lange kein Mittel gefunden gegen Luis Enriques zwei taktische Geniestreiche im Spiel. Gegen die Abwehrkanten Bonucci und Giorgio Chiellini hatte Enrique von Beginn an einfach: keinen Mittelstürmer gebracht. Alvaro Morata saß auf der Bank, Leipzigs Dani Olmo machte als Falsche Neun ein Riesenspiel, war für die Italiener kaum zu halten, gab fünf Schüsse ab, spielte zwei Schlüsselpässe und bereitete per einfachem Doppelpass durch die Mitte das 1:1 vor. Das erzielte: der eingewechselte Alvaro Morata.

Obwohl der später den entscheidenden Elfmeter verschoss, war seine Einwechslung der nächste taktische Coup des Trainers. Unmittelbar nach Chiesas Führungstreffer hatte Enrique Morata eingewechselt und seine Formation geändert. Das 1:1 fiel zudem, nachdem Mancini das 4-3-3 aufgelöst und Sechser Jorginho im neuen 4-4-1-1 zum Sonderbewacher des bärenstarken Pedri ernannte. Der zog Jorginho vor dem 1:1 aus dem Zentrum, wodurch der Weg für Olmo und Morata frei wurde.

Am Trainer lag's nicht, dass Spanien gegen Italien ausschied. Luis Enrique ist der richtige Mann am richtigen Ort - was hinterher auch der spanische Fußballverbandschef Luis Rubiales bestätigte: "Wir haben das Gefühl, dass er einen Spielstil geprägt hat, der jahrelang Bestand hat", sagte er bei Ser auf die Frage, ob Enrique weiter Trainer bleiben dürfe.

UEFA darf keinen Spieler des Turniers wählen

So viele gute Spiele uns diese EM beschert hat, so wenig ist es das Turnier der Superstars. Antoine Griezmann, der Spieler der EM 2016? Soll zu viel Playstation gespielt haben und stand mit im Mittelpunkt eines Rassismus-Eklats. Robert Lewandowski? Aus in der Vorrunde. Luka Modric? Ein zugegeben geiles Tor, aber verlor das irre 3:5 gegen Spanien im Achtelfinale. Eden Hazard? Verletzt im Achtelfinale, nicht auffälliger als Bruder Thorgan. Ok, Cristiano Ronaldo war richtig gut, aber Portugal hat eben auch schon im Achtelfinale die Segel gestrichen.

Wenn Harry Kane im Halbfinale mit England gegen Dänemark (21 Uhr im Liveticker) und möglichen Finale nicht noch drei bis vier Tore erzielt oder die UEFA nicht einen Weg findet, aus Donnarumma, Bonucci, Spinazzola, Verratti, Chiesa und Barella einen Spieler des Turniers zu machen, kann der Titel in diesem Jahr eigentlich nicht vergeben werden. Außer Simon Kjaer erhält die Auszeichnung für besondere Verdienste. Womit der Verband immerhin mal mit einer guten Idee punkten könnte.

Aber vielleicht wird Dänemark ja sogar noch Europameister, dann ließen sich auch sportliche Gründe finden.