Am Ende regnete es dann doch noch, aber das störte keinen: Es tropfte nämlich nicht Wasser vom Himmel, sondern Bier. Das Auftreten von Bierduschen ist unter Fußball-Fans ein recht sicheres Indiz dafür, dass alles in bester Ordnung ist und an diesem Samstag in Amsterdam war aus dänischer Sicht tatsächlich alles in bester Ordnung. Das fing schon mit dem Wetter an. Tagelang war für den Spieltag Regen angesagt gewesen, am Ende aber schien doch die Sonne.
Ob dafür die Dänen selbst verantwortlich waren, denen man mittlerweile ja so gut wie alles zutraut? Gesichert ließen sie beim Achtelfinalspiel gegen Wales in der Johan Cruyff Arena jedenfalls viermal literweise Bier über die Ränge regnen, und zwar bei jedem Tor ihrer Nationalmannschaft: zweimal Kasper Dolberg, je einmal Joakim Maehle und Martin Braithwaite. 4:0! Durchgenässt! Viertelfinale!
"Es ist schwer zu glauben, dass das Realität ist", sagte Trainer Kasper Hjulmand bei der Pressekonferenz nach dem Spiel. Kurz zuvor war er noch allein in die dänische Kurve gerannt, um mit den mitgereisten Fans zu feiern. Die Mannschaft war zu diesem Zeitpunkt schon weitergezogen in die andere dänische Kurve. Insgesamt gab es vier dänische Kurven, beziehungsweise ein dänisches Stadion.
EM-Achtelfinale: Dänisches Heimspiel in Amsterdam
Wie schon bei den Gruppenspielen durften die Johan Cruyff Arena auch beim Achtelfinale wieder 16.000 Fans besuchen und ungefähr so viele erschienen in rot-weiß. Die wenigen Dutzend Waliser waren überwiegend entweder in Kontinentaleuropa lebende Auswanderer oder verkleidete Niederländer, die aus Mitleid anfeuerten. Corona-Regularien machten eine Einreise aus Wales ohne folgende Quarantäne unmöglich.
Nach drei echten Heimspielen im Parken von Kopenhagen hatte Dänemark nun also ein falsches Heimspiel in Amsterdam. Deren Fans durften nämlich normal einreisen und taten das größtenteils mit Autos, sollten die Niederlande aber nach spätestens zwölf Stunden wieder verlassen. Eine nicht repräsentative Umfrage von SPOX und Goal unter dänischen Fans ergab: Nun ja, womöglich müsse man länger als zwölf Stunden feiern und dann noch auf Fahrtüchtigkeit warten.
"Ich bin so dankbar für die Unterstützung, die wir bekommen haben. Ich bin so, so dankbar", sagte Hjulmand. Im Stadion erlebten Trainer und Spieler die Stimmung live mit, vorab wurden ihnen als zusätzliche Motivationsschübe aber offenbar Eindrücke aus der Stadt zugespielt. Doppeltorschütze Dolberg berichtete jedenfalls fasziniert von entsprechenden Videos.
Dänemarks Fans in Amsterdam: Die Party begann in der Stadt
Ab mittags versammelten sich tausende dänische Fans am Rembrandtplein im Herzen Amsterdams und feierten bei Sonnenschein ein Fußball-Fest, wie man es womöglich seit Beginn der Corona-Pandemie nicht mehr gesehen hat. Bei den Gruppenspielen der Niederlande herrschte hier zwar auch eine hervorragende Stimmung, vergleichbar mit dem Auftritt der dänischen Fans war das aber nicht im Ansatz.
Das Meer in rot-weiß hüpfte und tanzte und sang seine Lieder. Am liebsten eine Abwandlung des aktuell allseits beliebten "Allez, allez, allez", mit dem der FC Liverpool 2019 durch Europa gezogen war und letztlich die Champions League gewonnen hatte. In der dänischen Version heißt es: "Hoch lebe Dänemark, für dich drehen wir durch." Die Fans taten alles, um diesen Lyrics gerecht zu werden: Am nächsten U-Bahnhof wurde die blecherne Akustik ausgetestet, bei der folgenden Fahrt die Achsenstabilität.
Hjulmand: "Verbindung zwischen Amsterdam und Dänemark"
Wieder und wieder ertönten auch Gesänge über Christian Eriksen. Sein tragischer Zusammenbruch beim ersten Gruppenspiel gegen Finnland hat für eine beeindruckende Bindung zwischen Trainer, Spielern und Fans gesorgt - und Dänemark außerdem europaweit Sympathien beschert. "Wir haben Liebe und Unterstützung gebraucht", sagte Hjulmand. "Dass wir sie bekommen haben, hat uns Flügel verliehen."
Nach zunächst zwei Niederlagen gegen Finnland und Belgien trugen diese Flügel die Mannschaft am abschließenden Gruppenspieltag zu einem beeindruckenden 4:1-Sieg gegen Russland und somit ins Achtelfinale und in die Stadt, in der Eriksens Profikarriere einst begonnen hat: Amsterdam.
2009 war er im Alter von 16 Jahren vom Odense Boldklub zu Ajax gewechselt und hat dort die große Tradition dänischer Spieler fortgesetzt. Erst Sören Lerby und Jan Mölby, später die Laudrup-Brüder Brian und Michael, dann Dennis Rommedahl und das ist nur eine kleine Auswahl. "Für Dänemark ist Ajax der wichtigste Klub außerhalb der eigenen Landesgrenzen. Es besteht eine große Verbindung zwischen Amsterdam und Dänemark", wusste Hjulmand schon vor dem Spiel zu berichten.
Kasper Dolbergs unverhoffter Höhepunkt in Amsterdam
Mit seinem Doppelpack entscheidend mitverantwortlich für den Triumph in Eriksens alter Heimat war mit Dolberg übrigens ein anderer Spieler, der einst bei Ajax seinen Durchbruch im Profifußball gefeiert hat. Der 23-jährige Stürmer spielte von 2015 bis 2019 in Amsterdam. Anschließend wechselte er für rund 20 Millionen Euro nach Frankreich zu OGC Nizza.
Die triumphale Rückkehr an seine alte Wirkungsstätte sei laut Dolberg wahlweise "surreal", "verrückt" oder "wahnsinnig" gewesen. Er hätte auch sagen können: völlig unverhofft. In der Gruppenphase absolvierte Dolberg nämlich lediglich 30 Minuten, ehe ihn eine Verletzung des Stammstürmers Yussuf Poulsen von RB Leipzig in die Startelf spülte. "Ich glaube, es hat genau so sein sollen, dass er hier seinen großen Höhepunkt hat", mutmaßte Hjulmand.
Dänemarks Sieg gegen Wales: Am Datum des EM-Sieg
Passiert ist all das übrigens an einem historischen Datum des dänischen Fußballs: Am 26. Juni 1992 hatte das kleine skandinavische Land dank eines 2:0-Sieges gegen Deutschland sensationell den EM-Titel geholt. Anschließend gewann Dänemark 29 Jahre lang kein einziges K.o.-Spiel bei einer EM. Bis zum 26. Juni 2021, bis Amsterdam.
Im Viertelfinale am kommenden Samstag in Baku wartet nun der Sieger des Duells zwischen Tschechien und den Niederlanden. Zunächst aber durften die dänischen Fans den Achtelfinalsieg feiern - und dabei von gelockerten Corona-Regeln profitieren. Seit diesem Samstag müssen Bars in Amsterdam nicht mehr um 22 Uhr schließen, sondern dürfen bis in die Nacht geöffnet haben. Wer die Sonne scheinen lassen kann, der kann auch Sperrstunden verschieben.