SPOX blickt zurück auf die Karriere von Afrikas Fußballer des Jahrhunderts, die unter Arsene Wenger begann und in Mailand vollendet wurde. Bei George Weah ging es immer um mehr als nur um den Sport: Er war - und ist - die Hoffnung einer ganzen Nation.
Es ist der 18. September 1996. Eine Ecke fliegt im Giuseppe Meazza an den langen Pfosten, über Freund und Feind hinweg. Dort wartet George Manneh Weah, mit 29 Jahren auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Er sprintet los, den Ball eng am Fuß.
Erst am Mittelkreis kann er von zwei Gegenspielern in kanariengelb gestellt werden. Er spielt sie aus, legt den Ball am nächsten Gegenspieler rechts vorbei, geht selbst links. Im Strafraum ein platzierter Abschluss mit dem Innenrist ins lange Eck - Tor. Für dieses Jahrhundert-Tor feiern die Milanisti ihren George Weah bis heute.
18 Jahre später hat Weah das Jersey mit dem Opel-Aufdruck gegen ein Hemd ausgetauscht, trägt randlose Brille, der Bart zeigt bereits graue Strähnen. Sein Stadion sind mittlerweile staubige Straßen zwischen Wellblechhütten. Aber Fans hat "King George" immer noch - und eine Mission.
Aus den Slums nach Europa
"Wenn sich meine Großmutter nicht um mich gekümmert hätte - ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre", sagt Weah in einer Dokumentation von "CCTV Africa".
Seine Eltern lassen ihn als Kind in den Slums der liberianischen Hauptstadt Monrovia zurück: Dreck, Drogen, bittere Armut. Von klein auf spielt er Fußball, von morgens bis abends, barfuß natürlich, ungeachtet der Nägel und Glasscherben. Zuerst vor dem Haus als waschechter "Straßenfußballer", dann auf einem heruntergekommenen Sandplatz.
"Die Leute nannten mich faul, schwach", erinnert er sich. "Aber ich wollte meinen Kritikern beweisen, dass etwas aus mir werden kann." Mit 16 bekommt er ein Stipendium - und übt schon im Klassenzimmer das Autogrammeschreiben. Sein Talent ist nicht mehr zu übersehen: Weah verbindet die typisch afrikanische Athletik - schnell, körperlich stark - mit technischen Fähigkeiten. Stark im Dribbling, auch bei hohem Tempo, beidfüßig, dazu eiskalt im Abschluss. Über die Klubs in Liberia geht es nach Kamerun und 1988 zum AS Monaco.
Der Trainer des 21-Jährigen hat ein Händchen dafür, obskure Talente auszugraben und zum Weltstar zu machen: Es ist Arsene Wenger. Für ihn ist das Sturmtalent "der Schokoladenosterhase, den der kleine Junge an Ostern im Garten findet" - und er ist es, der aus dem 1,85-Meter großen Kraftpaket einen Weltklassestürmer formt.
Unaufhaltsamer Torjäger
47 Tore schießt er in 103 Spielen für Monaco, gewinnt den Pokal und erreicht das Finale im Europapokal der Pokalsieger. Für 6,5 Millionen Euro wechselt er zu Paris St.-Germain und gewinnt dort die Meisterschaft und zweimal den Pokal. Mit sieben Toren ist er 1994/1995 der Topscorer der Champions League, PSG stößt bis ins Halbfinale vor. Dabei gelingt ihm im Olympiastadion das Tor, das er später als schönstes seiner Karriere bezeichnet: 30 Meter vor dem Tor tritt der an, lässt gleich drei Bayernspieler stehen und jagt den Ball an Oliver Kahn vorbei in den Winkel.
Am ehesten verbindet man Weah jedoch mit dem legendären schwarz-rot-gestreiften Trikot des AC Mailand. Im Sommer 1995 streift er selbiges über, spielt in einer Reihe mit Legenden wie Paolo Maldini, Franco Baresi und Roberto Baggio. Mit dem Brasilianer Ronaldo ist er das Paradebeispiel eines neuen Stürmers, der nicht im Strafraum auf die Bälle wartet, sondern aus der Tiefe kommt, mit höchstem Tempo auf die Verteidiger zugeht. Unvergessen sein Tor gegen Hellas Verona: Im San Siro dribbelt er im eigenen Strafraum los, narrt sieben Gegenspieler und schließt perfekt ins lange Eck ab.
George Weah ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Er wird 1995 von "France Football" mit dem Ballon d'Or ausgezeichnet, als erster und bis heute einziger Afrikaner. Auch die FIFA kürt ihm zum Spieler des Jahres. "Das war der beste Moment meiner Karriere, das war unvorstellbar", erzählt er. Für seine Landsleute ist er längst eine Legende, das Idol tausender, auf unwirtlichen Plätzen trainierender Kinder.
Doch abseits des Platzes ist seine Welt längst in den Grundfesten erschüttert.
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Weahs Heimat Liberia wird seit 1989 von einem blutigen Bürgerkrieg erschüttert, der über die Jahre hunderttausende Tote fordert. Aus der Entfernung muss er mitansehen, wie sich die westafrikanische Nation zerfleischt. Als er sich, als berühmtester Bürger des Landes, 1996 publikumswirksam an die Vereinten Nationen wendet, ist er für viele ein Verräter. "Sie haben meine Häuser niedergebrannt, meine Autos und alles andere gestohlen", sagt er. Familienangehörige werden vergewaltigt, der Krieg dauert an.
Doch der Angreifer zieht sich nicht zurück - im Gegenteil. In diesen Jahren ist er es, der das liberianische Nationalteam am Leben erhält. Aus eigener Tasche finanziert er die "Lone Stars", organisiert Trainingslager in der Elfenbeinküste, agiert als Spieler und Trainer. "Ich habe mehr als zwei Millionen Dollar für das Team ausgegeben", bestätigt er. "Aber das war meine Pflicht." Wenn das Team spielt, schweigen die Waffen: Der Sport kann das entzweite Land vereinen - wenn auch nur für 90 Minuten.
"Ich will kein Politiker sein"
Zweimal erreicht Liberia mit Weah, der insgesamt 60 Länderspiele macht, den Afrika-Cup. Seinen Traum von einer WM-Teilnahme kann er sich und seiner Nation jedoch nicht erfüllen. Doch in diesen Momenten steht Weah für Liberia, seine Stimme findet im Bürgerkrieg Gehör, ähnlich wie Didier Drogbas Jahre später in der Elfenbeinküste.
Nach dem Kapitel Milan spielt Weah für den FC Chelsea, Manchester City, schließlich noch ein Jahr in Marseille. Bei Al-Jazira lässt er 2003 seine Karriere ausklingen, nach 411 Spielen und 193 Toren.
Hat der Mann, der in seiner Heimat Fußballklubs gründet und Stipendien vergibt ("Ich will, dass sich die Leute an einen George Weah erinnern, der einem Kind zur Schulbildung verholfen hat. Nicht jemand, der ein paar Millionen Dollar auf dem Konto hat oder teure Autos fährt"), politische Ambitionen? "Ich will kein Politiker sein", widerspricht er 2001 gegenüber der "BBC". "Ich kann mein Volk auch auf einem anderen Weg vereinen."
Erster Anlauf scheitert
Sprach's - und tut es doch. 1999 bricht der zweite Bürgerkrieg in Liberia aus, nur drei Jahre nach Beendigung des ersten Kriegs. Als 2003 endlich ein Friedensvertrag ausgehandelt wird, ist Monrovia nach langer Belagerung fast zerstört, das Land erneut am Abgrund. Und Weah stellt sich zur Wahl. "Ich wollte meinem Land schon immer dienen, und als Präsident kann ich das tun."
Er gründet die Partei "Progress for Democratic Change", bei den Wahlen 2005 kommt er auf 40 Prozent der Stimmen. Seine fehlende Schul- und Ausbildung wird ihm zum Verhängnis, auch weil Siegerin Ellen Johnson Sirleaf auf einen Harvard-Abschluss verweisen kann. Also holt er seinen Abschluss in den kommenden Jahren nach, studiert in den USA und macht einen Master-Abschluss.
getty"Wir sind ein Volk"
Ein Fußballer als Präsident von knapp 4,3 Millionen Einwohnern? Weah wird es 2017 wohl erneut versuchen, in dem von Krisen geschüttelten Staat, der zuletzt tausende Ebola-Tote zu beklagen hatte.
Bei den Senatswahlen Ende Dezember bekommt er im Bezirk Montserraso 78 Prozent der Stimmen. "Fußball hat mir die Möglichkeit gegeben, anderen zu helfen", sagt der 48-Jährige, der sich mittlerweile zum protestantischen Glauben bekennt. "Christen und Moslems sollten nicht gegeneinander kämpfen, wir sind ein Volk."
Dass "King George" zum Präsidenten gewählt wird und es in Liberia zum neuen Aufbruch kommt, es wäre für viele seiner Landsleute ein kleines Wunder.
Andererseits vielleicht auch kein größeres Wunder, als dass ein kleiner Junge aus den Slums von Monrovia zum besten Spieler der Welt wird.
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Der AC Milan im Überblick