Dieser Artikel wurde im Dezember 2019 veröffentlicht.
Irgendwann im Laufe seines 31. Lebensjahres hatte Andy van der Meyde genug. Genug von diesem Leben, das ihm viel Geld einbrachte, ihn aber gleichzeitig so einsam machte. Verletzungen, gescheiterte Comebacks, isolierte Nächte, über Wasser gehalten von Alkohol, Drogen und der Aussicht auf schöne Frauen.
Nach einer dieser Nächte wachte er auf und wollte einfach nur weg. Weg aus Liverpool, zurück nach Amsterdam. "Ich rief meinen Berater an und sagte ihm, dass ich von all dem hier weg muss. Denn wenn ich bleiben würde, würde ich wahrscheinlich sterben", sagte van der Meyde ein paar Jahre nach dem Ende seiner Karriere im Interview mit BBC Radio 5 live. "Er fädelte ein, dass ich bei Ajax mittrainieren und mich fit halten konnte. Er machte einen Anruf und schon am nächsten Tag war ich zurück in Amsterdam."
Van der Meyde zog die Reißleine, vielleicht gerade noch rechtzeitig.
Zehn Jahre zuvor hatte die Fußballwelt des heute 42-jährigen Niederländers noch so rosig ausgesehen. Er war ein aufstrebendes Talent bei Ajax, ein Eigengewächs aus der berühmten Nachwuchsakademie. Schnell, technisch stark, gut im Eins-gegen-eins, messerscharfe und präzise Flanken aus vollem Lauf - van der Meyde war der Inbegriff eines modernen Flügelspielers. Vergleiche mit dem großen Luis Figo waren keine Seltenheit.
Doch was die meisten und wohl auch er selbst seinerzeit für den erst vorläufigen Höhepunkt einer ruhmreichen Laufbahn hielten, entpuppte sich später als der endgültige. Es war die Saison 2002/03 und Ajax spielte plötzlich wieder fast so wie das Jahrhundert-Team Mitte der 90er, das mit Clarence Seedorf, Edgar Davids, Patrick Kluivert, Marc Overmars oder Jari Litmanen. Van der Meyde, gerade 23 und inzwischen A-Nationalspieler, war die große Waffe auf dem Flügel: Elf Tore und 14 Assists gelangen ihm in der Eredivisie.
Ibrahimovic über van der Meyde: "Er war nicht so arrogant wie die anderen holländischen Jungs"
Im Mittelfeld sorgten die jungen Wesley Sneijder und Rafael van der Vaart für die Glanzmomente, Nigel de Jong räumte auf, vorne stürmten Mido und ein gewisser Zlatan Ibrahimovic. Vor allem mit letzteren Beiden verstand sich van der Meyde prächtig. Weil er schon immer ein wenig anders war als die anderen Jungs aus der Ajax-Schule, die mit den beiden "Bad Boys" kaum etwas anfangen konnten.
"Wir waren eine Clique, die verrückten Jungs", sagte Ibrahimovic mal über sich, Mido und van der Meyde. "Andy verstand mich und es war leicht, sich mit ihm anzufreunden. Es fühlte sich an, als käme er aus einer Gegend, wo er ständig mit Leuten wie mir und Mido zu tun hatte. Er war einer von uns und nicht so arrogant wie die anderen holländischen Jungs."
Sportlich lief es in jener Zeit hervorragend. 2002 wurde van der Meyde mit Ajax Meister und Pokalsieger, 2003 schafften es die jungen Wilden aus Amsterdam in der Champions League bis ins Viertelfinale. Und dort scheiterten sie nur deshalb am späteren Sieger AC Mailand, weil Jon Dahl Tomasson in der 90. Minute des Rückspiels in San Siro das entscheidende Tor für die Italiener erzielte.
Vielleicht war es darum ja kein gutes Omen für van der Meyde, wenige Monate später an den Ort dieser Enttäuschung zurückzukehren. Für zwölf Millionen Euro wechselte er im Sommer 2003 zu Inter Mailand, ins damals gelobte Land der Serie A, angedacht als der nächste Schritt in den Fußball-Olymp. "Ich war mal der zweitbeste Flügelspieler der Welt hinter Luis Figo. Manchmal denke ich schon, dass ich mein Talent verschwendet habe", sagt van der Meyde im Rückblick.
Obwohl ihm in einem seiner ersten Einsätze für Inter ein sehenswertes Tor beim 3:0-Sieg in der Champions League bei Arsenal gelang, lief schon das erste Jahr in Italien sehr durchwachsen. Es gab zwar Ausreißer nach oben, doch meistens saß er auf der Bank, im System gab es keinen richtigen Platz für ihn, der mit seinem enormen Tempo ständig Druck über die Außen machen wollte. Zudem wurde Trainer Hector Cuper, der ihn verpflichtet hatte, bald entlassen - unter dessen Nachfolger Alberto Zaccheroni lief es noch mieser.
Andy van der Meyde: Flucht vor dem Fußball
Die mangelnden Einsatzzeiten frustrierten van der Meyde. Und weil er in Mailand keine echte Bezugsperson hatte, sein bekanntes Umfeld in Amsterdam vermisste, stürzte er sich irgendwann ins Nachtleben: "Vor meiner zweiten Saison in Italien ging ich eigentlich nie aus. Aber irgendwann wusste ich, dass ich sowieso nicht mehr spielen würde. Ich ging also raus und trank, es war wie eine Flucht vor dem Fußball. Ich wettete auch regelmäßig."
Im Sommer 2005 bot ihm der FC Everton einen scheinbar sinnvollen Ausweg aus dem Missverständnis Inter. Obwohl er zum Zeitpunkt des Transfers verletzt war, zahlten die Toffees ihm 37.000 Euro Gehalt pro Woche. "Das Doppelte von dem, was ich in Mailand verdient hatte", verriet er später. "Ich kaufte mir einen Ferrari und der erste Halt war immer die Newz Bar, ein Hotspot in Liverpool. Nach ein paar Stunden voller Alkohol fuhr ich zum nächstgelegenen Strip-Club. Klar, sich in einem Strip-Club mitten in Liverpool zu besaufen war nicht wirklich clever. Aber ich hatte eben eine Vorliebe für nackte Frauen", sagte er der Times.
Zeit für derlei Eskapaden hatte van der Meyde in seiner ersten Spielzeit auf der Insel ohnehin genug. Erst fehlte er von Saisonstart bis Ende Oktober verletzt, dann noch einmal von Dezember bis März. Nur zehn Premier-League-Einsätze standen nach dem Premieren-Jahr bei Everton zu Buche. Kein Tor, kein Assist - dafür ganz viel Frust.
Van der Meydes Alkoholprobleme wurden immer heftiger, zudem ließ eine Affäre mit einer Stripperin seine Ehe zerbrechen. Er kam nicht klar mit dem vielen Geld und den sportlichen Rückschlägen. "Ich konnte machen, was ich wollte, es gab keine Limits mehr. Dann gerätst du eben schnell auf die schiefe Bahn und verlierst den Blick für die Realität."
Seine damalige Frau ließ ihn in Liverpool von einem Privat-Detektiv beschatten, fand so das Techtelmechtel mit der Stripperin heraus. Mit Trainer David Moyes gab es immer wieder Streit, den Halt im Glas zu suchen, schien immer häufiger die einzige Option zu sein.
Andy van der Meyde: "Ich ging sieben Tage die Woche feiern"
"Ich redete mit niemandem darüber, lief mit einer Maske durch die Gegend und tat so, als sei alles in Ordnung. Ich bin nicht der Typ, der sich anderen Menschen anvertraut und über seine Probleme spricht, so war ich noch nie", erklärt van der Meyde. In vier Jahren bei Everton sollte das einst so gefeierte Talent insgesamt gerade mal 24 Pflichtspiele absolvieren. In den Spielzeiten 2007/08 und 2008/09 kamen sogar nur läppische drei Einsätze zusammen.
Sein Vertrag wurde logischerweise nicht verlängert, im Sommer 2009 stand van der Meyde also vor einem Scherbenhaufen. Und es wurde noch schlimmer, denn zum Alkohol kamen nun - da er gar nichts mehr zu tun hatte und alleine in Liverpool lebte - auch Drogen hinzu.
"Ich nahm Kokain, trank Alkohol und ging sieben Tage die Woche feiern", gestand er später. "Ich konnte mich nicht mehr auf Fußball oder irgendetwas anderes konzentrieren. In meinem Leben drehte sich alles nur noch um Party. Liverpool ist gefährlich, wenn man nicht in der Lage ist, sich unter Kontrolle zu haben. Ich verstand, dass Liverpool mich umbringen würde. Also musste ich dort weg."
Van der Meydes: "Der Bacardi fließt und du fährst Ski auf Kokain"
Angekommen an jenem Morgen, an dem Andy van der Meyde aus dem Albtraum der letzten Jahre aufwacht. Er geht zurück nach Amsterdam, trainiert eine Zeit lang bei Ajax mit. Im Frühjahr 2010 heuert er bei der PSV Eindhoven an, will seine Karriere mit 30 doch noch einmal in Schwung bringen. So alt ist er ja noch nicht. Doch das Experiment geht schief, nach ein paar Monaten und keinem Einsatz ist schon wieder Schluss bei der PSV.
Im Frühjahr 2011 beendet der 17-fache niederländische Nationalspieler seine Profi-Laufbahn, die ihn so viel weiter hätte bringen können, schließlich endgültig. Er findet wieder zur Ruhe, ist zurück bei seiner Familie, zurück in der Heimat.
Heute berät er junge Profis, damit sie nicht die selben Fehler machen wie er. Seinen Landsmann Royston Drenthe soll er etwa im Sommer 2011 vergeblich vor einem Wechsel zu Everton gewarnt haben. "Liverpool bietet zu viele Verlockungen für Typen wie uns", sagt van der Meyde in einer geleakten Sprachnachricht. "Ehe du dich versiehst, haben die Nachtklubs dich in ihren Bann gezogen. Der Bacardi fließt und du fährst Ski auf Kokain. Und die Frauen, Royston ... Oh, Mann! Diese englischen Frauen mit ihren kurzen Röcken ..."
Selbst hat van der Meyde mit Fußball heute nicht mehr viel zu tun. Dafür ist er erfolgreich bei YouTube, hat 282.000 Abonnenten und sein Interview-Format "Bij Andy in de auto" ist in Holland populär. Stars wie Dusan Tadic, Quincy Promes oder Davy Klaassen interviewt er darin während einer Autofahrt. Und auch sein alter Kumpel Mido war schon zu Gast.
Inklusive der Geschichten über früher, als sie gemeinsam mit Zlatan auszogen, die Fußballwelt zu erobern, im Gegensatz zum Schweden aber zu sehr das süße Leben genossen. "Es ist sehr gefährlich, viel Geld zu verdienen, wenn du so jung bist", sagt Mido dann. "Du bist noch ein Kind und hast plötzlich Millionen auf dem Konto", pflichtet ihm van der Meyde bei.
Und man merkt, dass er genau weiß, wovon er spricht.