Nach 516 qualvollen Tagen war es also endlich soweit. Die Madridistas im ehrwürdigen Estadio Santiago Bernabeu erhoben sich und applaudierten. Es war ein Moment diffuser Erwartungen und purer Neugier, als an jenem Spätsommerabend 2005 erstmals der Name des schlaksigen Jungen aus Nunthorpe auf der Videoleinwand aufleuchtete: Jonathan Woodgate.
Stoff, aus dem fußballromantische Skripte gemacht werden - normalerweise. Denn das verheißungsvolle Debüt entpuppte sich für den fünften und bis dato letzten englischen Spieler in Diensten der Königlichen schnell als Chronologie des Grauens: Eigentor nach knapp einer halben Stunde, Gelbe Karte kurz vor der Halbzeit, Platzverweis nach taktischem Foul in der 66. Minute. Ein Spielverlauf, der sinnbildlich für Woodgates zweijähriges Engagement bei Real Madrid steht, welches bis heute als eines der unglücklichsten Transfergeschäfte der Vereinsgeschichte gilt.
Aufstieg in Leeds, dann Sozialstunden und Länderspielsperre
Aufgewachsen im beschaulichen Vorort Nunthorpe begann Woodgates Karriere Ende der 1980er in der Jugendabteilung seines Heimatklubs FC Middlesbrough, ehe es ihn mit 16 Jahren auf Anraten der Familie etwa 70 Meilen südwestlich nach Leeds zog. Dort etablierte sich der Hüne prompt, gewann 1997 den renommierten FA Youth Cup und schaffte knapp ein Jahr darauf den Sprung zu den Profis unter David O'Leary. Dessen Gespür für junge Talente sorgte dafür, dass Woodgate rasant zum Stammspieler in der Innenverteidigung avancierte und in den Folgejahren 128 Spiele absolvierte.
Abseits des Rasens sorgte Woodgate derweil anderweitig für Schlagzeilen: Im Januar 2000 war der damals 20-Jährige gemeinsam mit seinem Mitspieler Lee Bowyer in eine Schlägerei vor einem Nachtlokal in Leeds involviert. Bei dem Vorfall hatte eine asiatische Studentin schwere Verletzungen davongetragen. Die Ereignisse schlugen hohe Wellen in der britischen Presse und zogen erhebliche Konsequenzen nach sich: Woodgate wurde zu 100 Sozialstunden verurteilt und vom englischen Verband vorübergehend für Länderspieleinsätze gesperrt, nachdem er im Juni 1999 sein erstes Spiel für die "Three Lions" bestritten hatte. Somit verpasste Woodgate eine etwaige Teilnahme an der WM 2002 und wurde erst im darauffolgenden Herbst wieder zum Nationalteam berufen.
Auf Klubebene hatte der Vorfall kaum Folgen. Angesichts der finanziellen Krise innerhalb des Vereins, für die Leeds-Boss Peter Ridsdale maßgeblich verantwortlich war, sah sich die Führung im Jahr 2003 jedoch gezwungen, das Eigengewächs - zum Unmut der eigenen Fans - für neun Millionen Pfund nach Newcastle ziehen zu lassen.
"Woodgate ist der beste Innenverteidiger des Landes "
Bei den Magpies verschaffte er sich auf Anhieb den nötigen Respekt seiner neuen Kollegen. Wie Jermaine Jenas einst gegenüber BT Sport verriet, forderte Craig Bellamy den Neuankömmling nach dessen erster Trainingseinheit heraus: "Bellaz sagte: 'Komm' schon, wir machen jetzt ein Eins-gegen-Eins-Duell.' Er stand dann an der Mittellinie und Woody sagte zu ihm, dass er nicht in das Tor hinter ihm treffen wird. Daraufhin sprintete Bellaz die Linie entlang. Woody verfolgte ihn - und boom! Auf einmal hatte er den Ball! Das gesamte Team hat es gesehen und Bellaz sagte nur: 'Okay, fair gespielt.'"
Auch bei den Fans entwickelte er sich in der Folge schnell zum Publikumsliebling, woran auch längere Verletzungspausen nichts änderten. Vor allem seine Leistung im Hinspiel des UEFA-Cup-Halbfinals 2004 gegen Olympique Marseille erregte die Aufmerksamkeit diverser Scoutingabteilungen, als Woodgate einen gewissen Didier Drogba im Zaum hielt und mit einer herausragenden Zweikampfstärke brillierte.
Auch der legendäre Sir Bobby Robson, damals Trainer bei Newcastle, war vollends von Woodgate überzeugt und wollte seinen Schützling unbedingt halten. "Natürlich will ich ihn nicht verlieren, er ist der beste Innenverteidiger des Landes", wurde er vom Evening Standard zitiert. Womöglich hätte Robson die Abwerbeversuche vieler Klubs verhindern können, doch bei einem Verein geriet auch er an seine Grenzen: "Die Anziehungskraft von Figo, Ronaldo, Zidane, dann Beckham und jetzt Owen. Wenn Sie an seiner Stelle wären, was würden Sie tun?"
Alternative zu Cannavaro: Real holt Jonathan Woodgate
Im Sommer vor der Saison 2004/05 war Real darum bemüht, die ohnehin schon galaktisch besetzte Offensive mit entsprechenden Pendants in der Defensive zu ergänzen, da sich mit Ivan Helguera und Francisco Pavon lediglich zwei erprobte Innenverteidiger im Kader befanden. So wurde zunächst Walter Samuel von der AS Rom verpflichtet. Darüber hinaus bemühte sich die Klubführung sowohl um Alessandro Nesta als auch um Fabio Cannavaro. Nachdem Real-Präsident Florentino Perez von beiden Hochkarätern jedoch eine Absage hinnehmen musste und die Zeit drängte, fiel der Fokus eine Woche vor Transferschluss auf eine weitaus weniger extravagante Lösung: Jonathan Woodgate.
Der Transfer, der letztlich im Zuge einer Ablöse in Höhe von rund 18 Millionen Euro über die Bühne ging, löste vielerorts eine Mixtur aus Erstaunen und Ungewissheit aus. Für viele Spanier, Fans wie Journalisten zugleich, war Woodgate trotz einiger internationaler Auftritte ein unbeschriebenes Blatt. In England war das Potenzial des damals 24-Jährigen zwar weitestgehend unbestritten, doch vor allem seine Verletzungshistorie warf Zweifel auf: Während seiner 18 Monate in Newcastle kam der Verteidiger lediglich auf 37 von 128 möglichen Einsätzen.
"Gott sei Dank waren Beckham und Owen da"
Selbst zur Zeit der Verpflichtung laborierte der Innenverteidiger noch an einer komplizierten Oberschenkelverletzung. Auch Perez' Hoffnung, "dass er in drei Wochen spielen wird", verpuffte schnell. Woodgate musste letztlich die komplette Saison pausieren. Die lange Ausfalldauer erschwerte seine Integration im neuen Umfeld enorm - sowohl auf als auch neben dem Platz: "Ich hatte keine Möglichkeit, Freundschaften mit den Spielern aufzubauen. Normalerweise macht man sich im Training Freunde, oder wenn man zu Auswärtsspielen reist. Bei mir war das nicht möglich", schilderte Woodgate seine damalige Situation gegenüber dem Guardian.
"Es ist schon schwer genug, im eigenen Land mit einer solchen Langzeitverletzung umzugehen. Aber hier kennt man nicht mal die Sprache und verbringt die ersten vier Monate im Hotelzimmer. Gott sei Dank waren David (Beckham, Anm. d. Red.) und Michael (Owen, Anm. d. Red.) da, die beide sehr coole Typen sind und mich ab und zu zum Essen einluden. Aber sie hatten eben ihre Familien und da will man natürlich nicht so oft stören", so Woodgate weiter.
Nach überstandener Reha wollte er in der Saison 2005/06 dann neu durchstarten. Zwar hatte Real die Abwehr jüngst mit dem aufstrebenden Sergio Ramos vom FC Sevilla verstärkt, im Gegenzug verabschiedete sich Samuel jedoch nach seinem enttäuschenden Intermezzo Richtung Mailand. Keine schlechten Vorzeichen.
Woodgate durchlebt Horrordebüt: "Ronaldo gab mir Auftrieb"
Am 22. September war es dann soweit. Der erfahrene Helguera war verletzt, Ramos gelb-rotgesperrt. Somit durfte Woodgate im Ligaspiel gegen Athletic Bilbao ran und feierte sein Debüt vor den eigenen Anhängern im vollgepackten Bernabeu. 516 Tage nach seinem Wechsel.
Nach zwanzigminütigem Abtasten beider Teams tauchte Bilbaos Joseba Etxeberria erstmals in der Gefahrenzone auf, kreuzte vom linken Flügel in die Mitte und schickte sich an, Iker Casillas mit einem Distanzschuss aus knapp 25 Metern zu prüfen. Casillas setzte bereits zum Hechtsprung an, als sich Woodgate in die Schussbahn warf und den Ball mit dem Kopf entscheidend abfälschte: Eigentor. Woodgate schlug die Hände über dem Kopf zusammen und sank zu Boden. "Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte den Ball eigentlich abblocken, aber er streifte nur meinen Kopf", sagte er im Anschluss.
Nach der Halbzeit gelang es den Königlichen, die Partie innerhalb von zwölf Minuten zu drehen. Doch nur eine Minute nach Rauls Führungstreffer erwies Woodgate seinen Kollegen einen weiteren Bärendienst: Bilbao setzte nach einem Ballgewinn zum Konter an und erneut gelangte der Ball kurz hinter der Mittellinie zu Etxeberria, der diesen wiederum am hoch verteidigenden Woodgate vorbeischob und zum Sprint ansetzte. Anstatt sich fallen zu lassen und das Sprintduell aufzunehmen, rückte Woodgate ungestüm heraus und blockte den Laufweg seines Gegenspielers. Kein grobes, dafür ein taktisches Foul wie man es im Lehrbuch vorfinden würde. Da Woodgate in der ersten Hälfte bereits verwarnt worden war, nahm sein Horrordebüt in der 66. Minute ein jähes Ende: Gelb-Rot!
Unter teils höhnischem, teils aufmunterndem Applaus von den Rängen verschwand der bedröppelte Verteidiger in den Katakomben. "Da saß ich dann also und dachte mir nur: 'Was zur Hölle?!'", beschrieb Woodgate seine Gefühlswelt. Zuspruch habe er nach dem Spiel unter anderem von "El Fenomeno" erfahren: "Ronaldo kam zu mir und sagte: 'Mach' dir keine Sorgen. Das war dein erstes Spiel. Wir wissen doch alle, dass du ein guter Spieler bist. Und außerdem: Deinem Fuß geht es doch gut, oder?' Das gab mir Auftrieb."
Woodgate bei Real: "Schlechtester Transfer des Jahrhunderts"?
In der Tat ging es in der Folge kurzzeitig bergauf. Im Oktober erzielte Woodgate in der Champions League gegen Rosenborg Trondheim sein erstes Tor für Real und wurde bis Februar 2006 sporadisch eingesetzt. Bevor er sich jedoch in der Stammformation festspielen konnte, warfen ihn diverse Verletzungen erneut zurück. Nach insgesamt 14 Einsätzen in zwei Jahren entschieden sich beide Seiten im Sommer 2006 dazu, getrennte Wege zu gehen.
Zunächst wurde er nach Middlesbrough verliehen, ein Jahr später an seinen Heimatklub verkauft. Nach den Zwischenstationen Tottenham Hotspur, wo er seinen einzigen Titel gewann (League Cup) und Stoke City landete er letztlich wieder bei Boro. Dort beendete er 2016 seine aktive Karriere und fungiert heute als Cheftrainer des Zweitligisten.
"Es war großartig! Ich habe es geliebt. Das erste Spiel nach einem Jahr: Rote Karte und ein Eigentor. Kein Problem", blickte Woodgate 2017 im AS-Interview mit einem Hauch Selbstironie auf seinen Einstand bei Real zurück. Und auch das Label "schlechtester Transfer des Jahrhunderts", das ihm einst laut einer Marca-Umfrage auferlegt worden war, sollte er mit einem süffisanten Lächeln abtun können. Denn unterm Strich steht für den mittlerweile 40-Jährigen fest: "Ich war beim größten Team der Welt und habe meine Zeit dort genossen."