15. Mai 2010: Der Tag, an dem Boateng Ballacks Karriere beendete

Kevin-Prince Boateng verletzte Michael Ballack im FA-Cup-Finale 2010 so schwer, dass er anschließend die WM in Südafrika verpasste.
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Am 15. Mai 2010 kam es zum folgenschweren Foul von Kevin-Prince Boateng an Michael Ballack. Der DFB-Kapitän verpasste die WM und spielte nie wieder für Deutschland. Der Übeltäter wurde in seinem Heimatland mit Beschimpfungen und Morddrohungen überzogen.

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Als Kevin-Prince Boateng am frühen Abend des 15. Mai 2010 den Rasen des Londoner Wembley-Stadions verließ, war er frustriert. Der Mittelfeldspieler des FC Portsmouth hatte in der 55. Minute des FA-Cup-Finales die große Chance zur Führung vergeben, als er einen Elfmeter für den Außenseiter verschossen hatte. Wenige Minuten später hatte Didier Drogba dann den Siegtreffer für den FC Chelsea erzielt.

Erst in der Kabine wurde ihm bewusst, dass irgendetwas außergewöhnliches passiert sein musste. "Da waren gefühlt 5000 Nachrichten auf meinem Telefon", erinnerte sich der damals 23-Jährige später. "Aber mir war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, welche Dimensionen dieses Foul annehmen würde."

"Dieses Foul" war ein brutales Einsteigen gegen Michael Ballack im Mittelfeld, nachdem der deutsche Nationalmannschaftskapitän mit einer schmerzhaften Blessur am rechten Sprunggelenk noch vor der Halbzeit humpelnd den Platz hatte verlassen müssen.

Eine Aktion, die die weitere Karriere der beiden maßgeblich beeinflussen sollte. Dabei hatte sich der Übeltäter zunächst nicht viel dabei gedacht. "Ich habe mich noch auf dem Platz entschuldigt, Ballack musste raus, ich bekam Gelb und damit war das Thema erledigt", meinte Boateng.

Ballacks Tritt gegen Boateng beim ersten Duell 2005

Der folgenschwere Crash hatte allerdings eine Vorgeschichte, wie Boateng vor einigen Jahren in seiner Biografie enthüllte. Schon beim ersten Duell im August 2005 gerieten beide aneinander, weil der damalige Bayern-Star Ballack offenbar ein Problem mit dem so selbstbewusst auftretenden Youngster von Hertha BSC hatte. "Er trat mir damals absichtlich auf den Fuß. Ich fragte, was das soll. Er sagte: Sei leise, was glaubst du, wer du bist. Seit diesem Tag war er mir unsympathisch", erinnerte sich der Berliner.

Knapp fünf Jahre später im Londoner Wembley-Stadion fand die Fehde ihre Fortsetzung. "Ballack steht mir gegenüber und gibt mir eine Ohrfeige. Normalerweise wäre das eine Rote Karte gewesen, aber England halt ... Danach gab es den üblichen Trashtalk. Die Ohrfeige war nicht nur so ein Klaps, sondern schon ein richtiger Wischer", schrieb Boateng in seinem Buch, um dann lapidar seine Reaktion zu schildern: "Fünf Minuten später kam im Mittelfeld halt der Zug vorbei."

Relativ schnell wurde klar, dass die vermutlich letzte WM-Teilnahme des 33 Jahre alten Ballack akut gefährdet war. Zwar wurde ein Bruch ausgeschlossen, aber eine Kernspin-Tomographie musste wegen des zu stark geschwollenen Knöchels verschoben werden. Klarheit sollte daher eine Untersuchung bei Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt in München am folgenden Montag bringen.

Ballacks Berater drohte Boateng mit Klage

Die Empörung über Boateng schlug aber schon zu diesem Zeitpunkt hohe Wellen. Ballacks Berater Michael Becker äußerte sich in Hintergrundgesprächen nicht zitierfähig über das aus einfachen Verhältnissen stammende "Ghetto-Kind" und drohte dem "uneinsichtigen Gewalttäter" später sogar mit einer Klage wegen vorsätzlicher Körperverletzung, zumal dessen Vater die früheren Auseinandersetzungen bestätigt hatte.

"Wenn sein Vater öffentlich mitteilt, dass Boateng mit Ballack noch eine Rechnung offen hatte, dann bestätigt das die Vermutung, dass hier mit Verletzungsabsicht zugetreten wurde", sagte der Anwalt. "Meiner Meinung nach handelt es sich bei Boatengs Attacke nicht nur um einen hinterhältigen Tritt, sondern um Körperverletzung mit Ansage. Wir behalten uns ausdrücklich eine juristische Bewertung vor. Das umfasst sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Konsequenzen."

Boateng, der nie verklagt wurde, widersprach den Vorwürfen. "Es tut mir leid. Es war keine Absicht. Ich komme einfach zu spät und treffe ihn voll. Es sah dumm aus", erklärte er unmittelbar danach in der Sport Bild. Auch der Vorwurf, er habe mit seiner Attacke bewusst den WM-Start Ballacks verhindern wollen, bestritt er. "Wer so redet, hat noch nie Fußball gespielt", erzählte er in seiner Biografie, in der er sich jedoch einige Spitzen gegen sein Opfer nicht verkneifen konnte: "Ich habe Nachrichten von deutschen Nationalspielern bekommen mit dem Tenor: 'Gut, dass er nicht dabei ist'. Es soll im deutschen Lager einige gegeben haben, die sich klammheimlich darüber freuten, dass Ballack nicht dabei war. Sein Standing in der Mannschaft war weiß Gott nicht gut. Keinen freute es, dass er sich verletzt hat, mich am wenigsten, aber viele fanden 'ohne Ballack' sogar die bessere Option."

Kevin-Prince Boateng war sich nach dem Foul an Michael Ballack keiner Schuld bewusst.
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Kevin-Prince Boateng war sich nach dem Foul an Michael Ballack keiner Schuld bewusst.

Ein Monat Gipsverband für Ballack

Zumindest die sportliche Leitung um Jogi Löw bangte und hoffte jedoch, ehe der Worst Case am Montagabend bestätigt wurde: Riss des Innenbandes und Teilriss der Syndesmose im rechten oberen Sprunggelenk, ein Monat Gipsverband, danach mehrere Wochen Ruhigstellung in einem Spezialschuh. Das sei "die bitterste Verletzung meiner Karriere", erklärte Ballack, als er nur zwei Tage später auf Krücken seine Teamkollegen auf Sizilien besuchte. "Was soll ich jetzt zu Kevin-Prince Boateng sagen? Natürlich bin ich sauer. Ich habe keine Beziehung zu dem Spieler und weiß gar nicht, was in dessen Kopf vorgeht. Revanchegelüste gehören nicht in den Fußball."

Immerhin stellte sich Ballack wie das gesamte Team schützend vor Jerome Boateng, der "ungewollt und unverschuldet in den Blickpunkt" geraten ist, wie die FAZ schrieb. "Ich habe Michael gesagt, dass es mir leidtut. Ich saß mit ihm beim Essen an einem Tisch und habe mich dabei nicht so wohl gefühlt", berichtete er am nächsten Tag. "Er hat gesagt, dass es mit mir nichts zu tun hat, dass er nicht sauer auf mich ist." Boateng saß schwitzend in der prallen Sonne am Pool des Mannschaftshotels, eingepfercht von den mitgereisten Journalisten, die ihn beim DFB-Medientag ins Kreuzverhör nahmen.

"Das war ungefähr so verlockend wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Was sollte ich sagen? Ich konnte nur verlieren. Also habe ich das gesagt, was ich für richtig hielt", berichtete Jerome Boateng später. So bekannte er sich zu seinem Halbbruder ("Man sagt Halbbruder, aber er ist mein richtiger Bruder, und das wird er auch immer bleiben"), kritisierte ihn ("Das war ein brutales Foul. Und es war auch eine Rote Karte, das weiß auch mein Bruder") und nahm ihn auch in Schutz: "Ich kenne ihn besser als alle anderen und weiß, dass er das nicht mit Absicht macht. Kevin hat auch nicht den besten Ruf, aber man sollte es auch nicht übertreiben. Er hat sich entschuldigt, es tut ihm leid."

Doch bei Kevin-Prince kamen offenbar nur die kritischen Worte an, weshalb er per SMS für die nächsten Monate den Kontakt abbrach. "Er meinte, ich hätte ihn verteidigen und Ballack kritisieren müssen - und nicht sagen sollen, dass es eine Rote Karte war", sagte Jerome. "Kevin meinte jetzt: Jeder geht nun seinen eigenen Weg. Ich habe daraufhin nur gesagt: Das machen wir doch schon länger."

Hass-Gruppen auf Facebook und Morddrohungen

Der ältere Bruder war durch sein Foul und die Folgen in seinem Heimatland zum "Staatsfeind Nummer 1" geworden, wie er in seinem Buch schrieb. Im Fernsehen liefen Sondersendungen, die Boulevardpresse wütete gegen den Deutsch-Ghanaer und bei Facebook entstanden zahlreiche Hass-Gruppen wie "We hate you, Kevin Prince" oder "K.P.-Boateng - Staatsfeind Nr. 1".

Die Gruppe "82 Millionen gegen Boateng" bildete Boateng neben einem Affen ab, wüste Beschimpfungen und Morddrohungen gegen ihn ("Nigger, vergasen sollte man dich!") und seine Familie waren an der Tagesordnung. Boateng wurde von Bodyguards geschützt, versuchte aber, den starken Mann zu spielen. "Ich bin ein Fighter. Ich habe mir immer ins Gedächtnis gerufen, dass ich ein Weddinger Junge bin und mich nichts herunterziehen kann. Ich muss aber sagen, dass es mir eine Zeit lang richtig schlecht ging", berichtete er vergangenes Jahr im Interview mit SPOX und DAZN und meinte zu den Auswirkungen der massiven Anfeindungen: "Es zerstört dich."

Zumal das einstige Megatalent privat wie beruflich vor einer ungewissen Zukunft stand: In seiner ersten Ehe kriselte es, nach dem Abstieg des FC Portsmouth aus der Premier League war er vertragslos und von seinem Berater fühlte er sich im Stich gelassen. Der Wechsel zu Roger Wittmann kurz vor der WM, die er für Ghana bestritt, erwies sich als Schlüsselmoment. Von da an ging es bergauf: Boateng ließ den verletzten Superstar Michael Essien im defensiven Mittelfeld vergessen und spielte ein starkes Turnier - "Der Ballack Ghanas", titelte der Spiegel.

Erst im Viertelfinale scheiterten die Afrikaner unglücklich im Elfmeterschießen an Uruguay, doch aufgrund seiner Leistungen verpflichtete der AC Milan den einstigen Bad Boy. In Mailand wurde Boateng zum Publikumsliebling und Stammspieler, gewann im ersten Jahr die Meisterschaft und lernte seine heutige Frau kennen. "Wenn mir vor einem Jahr jemand gesagt hätte: 'Hey, Du wechselst jetzt zu Milan, gewinnst den Scudetto und wirst zum Idol der Fans' - ich hätte ihn gefragt, welche Drogen er nimmt", erzählte er. "Ich wollte mich nicht beschimpfen und fertigmachen lassen. Da war für mich klar: Ich will es allen zeigen. Ich habe eine neue Karriere gestartet und bin erwachsen geworden."

Ballack erholte sich nie mehr richtig von der Verletzung

Und Ballack? Der ehemalige Weltklassespieler erholte sich nie mehr richtig von der Verletzung. Bei der WM in Südafrika kam es zur offenen Machtprobe, als der neue Kapitän Philipp Lahm erklärte, er gebe die Binde freiwillig nicht mehr ab. Der verärgerte Ballack, der bei seinem Besuch im Teamquartier wie ein Fremdkörper wirkte und frühzeitig wieder abreiste, wartete vergeblich auf ein Zeichen von Löw. So endete seine erfolgreiche DFB-Karriere nach 98 Länderspielen ohne krönenden Abschluss. Bei Chelsea scheiterte die vor seiner Zwangspause eigentlich als sicher geltende Vertragsverlängerung, er kehrte zu Bayer Leverkusen zurück, wo mit 35 Jahren 2012 endgültig Schluss war.

Zu seinem Abschiedsspiel lud er auch ehemalige Kontrahenten wie Löw und Lahm ein, den Übeltäter von 2010 aber nicht. "Zu Boateng habe ich überhaupt kein Verhältnis", erklärte Ballack. Und Boateng selber meinte: "Man setzt sich nur mit jemandem zusammen, wenn es ein Freund ist oder eine Person, die einem wichtig ist. Ballack ist mir nicht wichtig, ich bin ihm nicht wichtig."

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