Andreas Herzog erlebte beim FC Bayern München die Blütezeiten des FC Hollywood. Im Interview mit SPOX und GOAL erzählt der österreichische Rekordnationalspieler von der damaligen Mannschaftsstruktur, dem UEFA-Cup-Sieg und den legendären Vorfall mit Oliver Kahn.
Außerdem berichtet Herzog von Schnaps-reichen Einstandsritualen bei Werder Bremen, den beiden "Rotzbuam" David Alaba und Marko Arnautovic, Raketen in Israel und wie er beinahe nackt dem heutigen US-Präsidenten Joe Biden begegnet ist. Aktuell trainiert der 53-Jährige den österreichischen Bundesligisten Admira Wacker Mödling.
Herr Herzog, Sie haben kürzlich Ihre Biografie veröffentlicht. Sind Sie im Zuge des Schreibens auf lustige Episoden aus Ihrem Leben gestoßen, die Sie eigentlich schon verdrängt hatten?
Andreas Herzog: Je länger ich nachgedacht habe, desto mehr Geschichten sind mir eingefallen. Zum Beispiel als ich mit 19 oder 20 mein erstes Angebot aus dem Ausland von OSC Lille bekam. Nach einem Derby gegen die Austria habe ich mich mit deren Verantwortlichen getroffen. Weil ich damals keinen Manager hatte, habe ich meinen besten Freund, den Thomas, mitgenommen. Die haben in Englisch auf uns eingeredet. Ich habe wegen der ganzen Aufregung nichts verstanden, aber Thomas hat nach jedem Satz "Oh yes, okay, oh fine" gesagt. Ich war wahnsinnig glücklich, dass er dabei war und alles verstanden hat. Danach hat er mir aber gebeichtet, dass er auch kein Wort verstanden hat. Da saßen wir herum wie zwei Deppen. Das war ein bisschen problematisch, aber letztlich egal, weil die sich danach nie mehr gemeldet haben.
Ihre erste Auslandsstation war Werder Bremen, drei Jahre später sind Sie 1995 zum FC Bayern München gewechselt. Mussten Sie Einstandsrituale absolvieren?
Herzog: Bei Bayern nicht, bei Werder schon. Dort musste man als Neuzugang mit jedem Spieler einen Schnaps trinken. Für mich war das bei einem 20-Mann-Kader unvorstellbar, weil ich eigentlich keinen Alkohol trank. Nach dem dritten Schnaps habe ich den Betrunkenen gespielt und mich geweigert weiterzumachen, was auch akzeptiert wurde. Thorsten Legat hat es ein Jahr vorher durchgezogen, den haben sie danach stocksteif ins Taxi gelegt und heimfahren lassen. Nach den Schnäpsen musste man noch eine Geschichte aus seiner Vergangenheit erzählen.
Was haben Sie berichtet?
Herzog: Ich dachte, dass sie irgendetwas von meiner bisherigen Fußballerkarriere wissen wollten, also begann ich von meinen Anfängen in Wien zu erzählen. Da wurde ich aber sofort unterbrochen. Das würde sie nicht interessieren, sie wollen nur Frauen-Geschichten hören.
Und?
Herzog: Dann habe ich halt erzählt, was mir bis dahin so passiert ist. Zum Glück hatte ich da schon drei Schnäpse intus, sonst hätte ich mich das nicht zu sagen getraut.
Wie ist Ihr durchaus ausgeprägter Wiener Dialekt in Deutschland angekommen?
Herzog: In Bayern war das nichts Besonderes, in Bremen hatte ich deshalb einen Bonus. Dort gelten Österreicher als exotisch. Einmal sprach mich eine ältere Frau auf der Straße an und fragte, ob ich dieser Österreicher sei. Nachdem ich bejaht habe, meinte sie: "Können Sie mal was sagen? Ich finden Ihren Dialekt so lieb."
gettyZurück zu Ihrem Wechsel zum FC Bayern. Wer waren Ihre ersten Bezugspersonen in München?
Herzog: Am Anfang hatte ich am meisten Kontakt mit Lothar Matthäus und auch mit den anderen Ausländern, vor allem mit meinem Zimmerkollegen Ciriaco Sforza. Mit Jürgen Klinsmann war ich komischerweise nicht so eng, obwohl ich mich am Ende mit ihm am besten verstanden habe.
Wie kam das enge Verhältnis mit Klinsmann zustande?
Herzog: Ich habe bei allen meinen Klubs versucht, mich mit den Torjägern anzufreunden, weil du als Spielmacher ohne ihre Treffer weniger wahrgenommen wirst. Und Jürgen wusste, dass ich ihm mit meiner Spielweise beim Toreschießen helfen kann. So ist über den Sport eine Freundschaft entstanden, die bis heute hält. Er hat mich später in die MLS geholt und zu seinem Co-Trainer bei der US-amerikanischen Nationalmannschaft gemacht. Die Freundschaft mit Jürgen ist das Wichtigste, das ich von meiner Zeit bei Bayern mitgenommen habe.
Mit welchem Mitspieler hatten Sie damals in München am meisten Spaß?
Herzog: Lustig drauf waren alle, aber Jean-Pierre Papin war extrem. Der war ein echter Hallodri. Er wollte dir immer kleine Fallen stellen, hat dir zum Beispiel bei jeder Mahlzeit das Essen oder das Getränk versalzen.
Klinsmann und der vormalige Ballon-d'Or-Gewinner Papin waren nur zwei von vielen großen Charakteren in der damaligen Mannschaft, außerdem gab es noch Matthäus, Oliver Kahn, Thomas Helmer und Mehmet Scholl. Wer war der wahre Anführer?
Herzog: Den hat es nicht gegeben. Vom Standing her war es schon Lothar, aber er war damals viel verletzt. Generell war die Mannschaft in drei Gruppen unterteilt. Eine Gruppe um Lothar, eine um Thomas Helmer und eine mit den Ausländern. Als Ausländer war es schwer, in die deutsche Einheit zu kommen. Und dann gab es noch Jürgen als Einzelgänger.
In der damaligen Zeit entstand der Spitzname "FC Hollywood". War der gerechtfertigt?
Herzog: Absolut. Ich kann bestätigen, dass wir für diesen Spitznamen alles erdenkliche getan haben. Wir waren eine Ansammlung von Superstars, keine Mannschaft. Wenn irgendetwas in der Kabine passiert ist, stand es am nächsten Tag in allen Zeitungen. Das war völlig anders als in Bremen, wo nichts an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Einerseits war der Spitzname etwas negativ, andererseits ist Hollywood weltberühmt und jeder will dorthin.
Wer hat den FC Hollywood am meisten und wer am wenigsten genossen?
Herzog: Am meisten Lothar, mit Abstand am wenigsten Jürgen - und der wohnt jetzt lustigerweise selbst in Los Angeles.
Inwieweit haben die Klub-Bosse Karl-Heinz Rummenigge, Uli Hoeneß oder Franz Beckenbauer gegengesteuert? Hoeneß soll angeblich sogar Detektive auf manche Spieler angesetzt haben.
Herzog: Klar wurde immer wieder Tacheles geredet, aber dadurch hat sich nichts geändert. Ob Detektive eingeschaltet wurden, weiß ich nicht. Aber selbst Detektive wären einem Lothar egal gewesen. Er hat sowieso gemacht, was er machen wollte.
Haben Sie sich von dem Trubel beeinflussen lassen?
Herzog: Bei Bremen hatte ich eine ganz andere Lockerheit, die ich bei Bayern wegen all der Superstars nicht ausleben konnte. Ich hatte von Beginn an viel zu viel Respekt. Da es sportlich für mich nicht gelaufen ist, habe ich mich in der Münchner Öffentlichkeit nicht wohlgefühlt. Nach einem Spiel war ich mit den Kollegen vielleicht mal essen, aber danach wollte ich immer heim. Ich habe mich in München so gut wie eingesperrt.
Was denken Sie, wenn heutzutage bei Trubel rund um den FC Bayern von einer Rückkehr des FC Hollywood gesprochen wird?
Herzog: Dass es damals auf jeden Fall viel ärger war als jetzt.
Sportlich lief die Saison 1995/96 wechselhaft: Platz zwei in der Bundesliga hinter Borussia Dortmund, aber immerhin gelang der Sieg im UEFA-Cup.
Herzog: Im Europacup haben wir uns zusammengerissen. Bei manchen Spielen dachte ich: "Bist du deppert, wenn wir zusammenhalten, sind wir in Europa unschlagbar." Weil wir als Mannschaft nicht funktioniert haben, hatten wir leider keine größeren Erfolge.
imago imagesWelchen Stellenwert hatte der UEFA-Cup für die Mannschaft? Beckenbauer hat ihn bekanntlich als "Cup der Verlierer" bezeichnet.
Herzog: Damals qualifizierten sich nur die jeweiligen Landesmeister für die Champions League, deshalb hatte der UEFA-Cup einen ganz anderen Stellenwert als heute die Europa League. Wir wollten den Titel unbedingt gewinnen. Für uns war das ein Riesenerfolg.
Sie kamen bei den beiden Finalspielen gegen Girondins Bordeaux nicht zum Einsatz. Haben Sie sich trotzdem als Sieger gefühlt?
Herzog: Christian Nerlinger und ich waren die einzigen beiden, die keine Minute gespielt haben. Für uns war das deshalb eine Spur weniger emotional. Bei der Heimfahrt im Bus war ich sogar richtig angefressen. Nach dem Bankett bin ich direkt aufs Zimmer gegangen. Ich weiß bis heute nicht, was die anderen noch gemacht haben. Im Nachhinein überwiegt aber die Freude über den Titelgewinn.
Die wohl berühmteste Szene Ihrer Zeit beim FC Bayern war, als Sie Ihr Kollege Oliver Kahn während eines Bundesligaspiels beim VfB Stuttgart auf dem Platz gepackt hat.
Herzog: Diese Aktion und der Umgang des Klubs damit haben für mich vom Kopf her das Ende bei Bayern bedeutet. Ich habe danach keine Unterstützung von den Verantwortlichen bekommen, stattdessen bin ich sogar geschimpft worden. Da habe ich gedacht: "Na servus, hier habe ich nichts mehr verloren."
Wie sind die Verantwortlichen mit dem Vorfall umgegangen?
Herzog: In der Pause des Spiels kamen Rummenigge und Hoeneß in die Kabine. Das haben sie nur gemacht, wenn es wichtig war. Ich bin zu Oliver gegangen und habe gesagt: "Wenn du mich noch einmal deppert anschaust, haue ich zurück." Daraufhin meinten Rummenigge und Hoeneß, dass mir schon lange eine aufs Maul gehört und ich leise sein soll. Dann hat mich Otto Rehhagel ausgewechselt.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Herzog: Ich war am Boden zerstört, dass ich nicht die Rückendeckung bekam, die ich gebraucht hätte. Ich habe daraus gelernt, dass man mit Gutmütigkeit nicht immer weiterkommt, sondern auch mal zurückschlagen muss.
Haben Sie sich mit Kahn später ausgesprochen?
Herzog: Ja. Am Ende war er sogar der Einzige, der mich von einem Verbleib überzeugen wollte. Er meinte, dass das erste Jahr bei Bayern wegen der Medien und des Erfolgsdrucks für jeden schwer sei und das zweite einfacher werden wird. Ich wollte aber nur mehr weg.
Kahn ist mittlerweile Vorstandsvorsitzender des FC Bayern. Hätten Sie ihm diese Rolle damals zugetraut?
Herzog: Ich habe ihn damals schon für einen intelligenten Menschen gehalten. Er hat über den Tellerrand geblickt und wollte sich in allen Bereichen weiterentwickeln. Aber ich hätte nie gedacht, dass er Vorstandschef bei Bayern werden könnte.
Sie waren nach Ihrer aktiven Karriere erst Co-Trainer der österreichischen Nationalmannschaft und später Cheftrainer der U21, wo Sie mit David Alaba und Marko Arnautovic zusammengearbeitet haben.
Herzog: Ich war mir bei beiden sicher, dass sie eine große Karriere machen werden. Damals waren das zwei Rotzbuam, aber David war schlitzohriger. Er hat genauso viel Blödsinn gemacht wie Marko, bei ihm hat man das aber weniger mitbekommen. Marko hat dagegen nichts versteckt. Ihm war es egal, was andere über ihn denken. Damit hat er sich selbst stark unter Druck gesetzt.
Mit diesen Eigenschaften wäre Arnautovic wohl eine gute Ergänzung für die Bayern-Mannschaft von 1995/96 gewesen.
Herzog: Ja, da hätte er gut reingepasst: in Sachen Talent und Einstellung.
Zwischen 2012 und 2016 fungierten Sie vier Jahre lang als Klinsmanns Co-Trainer bei der US-amerikanischen Nationalmannschaft. Inwiefern hat er sich zwischen seiner Zeit als Spieler und Trainer verändert?
Herzog: Eigentlich gar nicht, er war schon immer ein Visionär. Als Spieler hatte er in den 80er-Jahren eigene Fitness- und Lauftrainer. Auch als Trainer hat er immer neue Ideen eingebracht. Jürgen war der Erste, der einen Staff mit Spezialisten um sich herum versammelt hat.
Beim FC Bayern ist er als Trainer gescheitert. Haben Sie sich mit ihm darüber unterhalten?
Herzog: Klar haben wir auch darüber gesprochen, wir hatten schließlich viel Zeit gemeinsam in Los Angeles. Für Jürgen war Hoeneß' Omnipräsenz in München sehr schwer.
Gemeinsam haben Sie die USA zur WM 2014 in Brasilien geführt - angeblich kam es dort zu einem besonderen Treffen mit dem heutigen US-Präsidenten Joe Biden.
Herzog: Ja, nach unserem Sieg beim ersten Gruppenspiel gegen Ghana. Ich hatte mit dem japanischen Fitnesstrainer eine Gaudi in der Dusche, dann sind wir in die Kabine gehüpft, haben mit den Handtüchern herumgewedelt und "USA, USA, USA" gesungen. Auf einmal sah ich einen riesigen Bodyguard. Dahinter stand der damalige Vizepräsident Joe Biden mit seiner Tochter oder Enkelin, das weiß ich bis heute nicht. Ohne diesen Schrank von Bodyguard hätte mich Biden nackt gesehen. Dann hat mich der japanische Fitnesstrainer zurück in die Dusche gezogen. Das war schon ein bisschen peinlich.
Wie ging es weiter?
Herzog: Biden hat eine Dankesrede gehalten und ist gegangen. Danach haben wir weiter gefeiert.
gettyAls Nächstes waren Sie Cheftrainer der israelischen Nationalmannschaft. Was war Ihr schönster Moment in dieser Zeit?
Herzog: Der Sieg gegen Österreich. Es war zwar eine komische Situation, aber eine riesige Freude. Generell habe ich es in Israel sehr genossen. Wenn das Wetter in Österreich im November schlecht wird, hat es dort noch 25 Grad.
Wo haben Sie in Israel gelebt? Hatten Sie Sorge wegen der nahen Konflikte im Gazastreifen?
Herzog: Ich habe etwas nördlich von Tel Aviv direkt am Meer gewohnt. Mein Co-Trainer lebte in einer Stadt deutlich näher am Gazastreifen. Dort ist schon öfter mal eine Rakete eingeschlagen, aber bei mir war es harmlos. In Israel habe ich mich immer sicher gefühlt. Nicht so lustig war es bei einigen Auswärtsreisen, vor allem einer nach Albanien.
Was ist da passiert?
Herzog: Drei Jahre zuvor war in Albanien ein Attentat auf die israelische Mannschaft geplant. Deshalb gab es dort Sicherheitsvorkehrungen, das können Sie sich nicht vorstellen. Für den Transport vom Flughafen zum Hotel wurden wir in Minibusse mit zugezogenen Vorhängen gesteckt statt in einen großen Mannschaftsbus. Im Hotel waren die obersten beiden Stockwerke für uns reserviert. Da durfte keiner rein und wir nicht raus.
Welche Rolle hat Religion in der Mannschaft gespielt?
Herzog: Für mich gar keine, ich bin Fußballtrainer und kein Religionslehrer. Bei einem meiner ersten Matches habe ich fünf Araber und sechs Juden aufgestellt, ohne dass mir das bewusst gewesen wäre. Wir haben gewonnen und am nächsten Tag stand in der Jerusalem Post: "Es musste ein Österreicher kommen, um uns zu zeigen, dass Juden und Araber miteinander erfolgreich sein können." Vielleicht kriege ich noch einen Nobelpreis dafür. (lacht)
Nach einer unglücklichen 2:3-Niederlage gegen Slowenien sollen Sie mit einem Wutausbruch in der Kabine mehrere Spieler zum Weinen gebracht haben. Was war da los?
Herzog: Irgendwer hat geschrieben, dass ich einen Tisch zertrümmert und Flaschen durch die Kabine geschossen hätte. Das ist aufgebauscht worden. Die Spieler haben alle geheult - aber nicht wegen meiner Ansprache, sondern weil wir verloren haben. Ich habe ihnen gesagt, dass wir uns für kein Turnier qualifizieren werden, wenn wir nicht professioneller spielen. Dann habe ich eine Wasserflasche zirka einen Meter weit getreten.
Emotional geht es in Israel traditionell auch auf den Rängen zu. Wie haben Sie die dortige Fankultur erlebt?
Herzog: Bei der Nationalmannschaft entstand nach einer kleinen Siegesserie eine große Euphorie. In der Liga gibt es fünf, sechs Traditionsvereine, bei denen eine fantastische Stimmung herrscht. Das ist wirklich ein Wahnsinn. Die Derbys in Israel sind intensiver als in Wien.