Tottenham unter Trainer Pochettino: Mauricio, der doppelte Wertschöpfer

Mauricio Pochettino trainiert Tottenham seit Sommer 2014
© getty

Sechs Siege feierten die Tottenham Hotspur in der Premier League zuletzt in Serie, ehe bei Manchester City ein Remis gelang. So unverdient es zustande kam, so exemplarisch steht es für den Glauben der Mannschaft an sich selbst. Trainer Mauricio Pochettino formte in zweieinhalb Jahren das aktuell wohl spannendste Team der Liga. Es steht für Wertschöpfung in zweierlei Hinsicht.

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In der Wirtschaft versteht man unter Wertschöpfung "die Transformation vorhandener Güter in Güter mit höherem Geldwert", in der Philosophie-Sparte Ethik "den Prozess und das Ergebnis der Realisierung von ideellen Werten". Für den Fußball-Verein Tottenham Hotspur gelten beide Definitionen.

Die Spurs-Startelf, die jüngst gegen Manchester City begann, kaufte der Verein über die Jahre hinweg für insgesamt 101 Millionen Euro zusammen. Ihr aktueller Marktwert wird auf mehr als das Doppelte geschätzt. Wirtschaftliche Wertschöpfung. Und diese Mannschaft spielte in den vergangenen Wochen den begeisterndsten, den mitreißendsten Fußball der so umkämpften Premier League. (Fußball-)Philosophische Wertschöpfung.

Sechs Siege in Serie erstritt Tottenham zuletzt, das folgende zwar gänzlich unverdiente, aber willensstark erzwungene Remis bei Manchester City war der nächste Entwicklungsschritt dieser so erstaunlichen Spurs. Ein Schritt, der den unbändigen Glauben der Spieler an sich selbst und die Ideen ihres Trainers offenbarte.

Tottenham lag 0:2 zurück und hatte eigentlich keine Chance. Am Ende stand es 2:2. Warum, das wusste keiner so recht. Wohl nicht einmal Trainer Mauricio Pochettino und der ist immerhin der Architekt dieses wirtschaftlich und philosophisch wertschöpfenden Vereins.

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Nischen-Transfers und Langzeit-Schlüsselspieler

Sechs Mal öffnete das Transferfenster seit Pochettinos Amtsantritt. Er verkaufte Spieler, er kaufte Spieler und im Endeffekt gab er nur knapp 20 Millionen Euro mehr aus, als er einnahm. Verdammt viel Geld sollte man eigentlich meinen, aber für einen Verein, der in der Premier-League-Spitze verkehrt, ein fast besorgniserregend geringer Wert. Speziell mit Blick auf die Vergleichszahlen der geldschleudernden Konkurrenz.

Pochettino und sein Funktionsteam holten beispielsweise Dele Alli für sieben Millionen Euro von den Milton Keynes Dons oder Eric Dier für fünf Millionen Euro von Sporting. Die Nische ist Pochettinos Lieblingsgebiet, die dort aufgefundenen Akteure mittlerweile entscheidende Stammspieler der Spurs.

Getragen werden die Spurs jedoch von Profis, die schon viel, viel länger im Norden Londons unter Vertrag stehen. Länger auch als Pochettino selbst. Mit Hugo Lloris, Jan Vertonghen, Danny Rose, Kyle Walker, Moussa Dembele und Harry Kane spielen sechs prägende Stammspieler schon seit mindestens 2012 für Tottenham. Und werden das auch weiterhin tun.

"Das ist meine Art, Verbundenheit zu Klub, Kollegen und Trainer zu zeigen und auch, wie sehr ich an dieses Projekt glaube", sagte Tormann Lloris kurz vor Weihnachten, nachdem er seinen Vertrag bis 2022 verlängert hatte. Es war schon die fünfte wegweisende Vertragsverlängerung innerhalb von nur vier Monaten. Kane und Alli unterschrieben zuvor ebenfalls bis 2022, Dier bis 2021 und Eriksen bis 2020. Langfristiges Binden der besten Mitarbeiter und dabei zusehen, wie sie zu Mitarbeitern mit noch höherem Geldwert werden.

Der Perfektion am nächsten

Trotz all dieser glücklich machenden Vertragsverlängerungen ist Pochettino eigentlich nie wirklich glücklich, wie er jüngst philosophierte, "weil wir immer noch etwas finden, was wir verbessern können". Und außerdem: "Es ist unmöglich, Perfektion zu erreichen, aber man muss trotzdem versuchen, perfekt zu werden."

Das Streben nach Perfektion verfolgt Pochettino als Fußballtrainer naturgemäß mit der Zusammenstellung seiner Mannschaft und der daraus resultierenden Spielweise. Dabei kam in dieser Saison wohl kein Premier-League-Team der Perfektion so nahe wie das Tottenham der vergangenen Wochen. Am nächsten im 3-4-3-System beim 2:0-Sieg gegen den FC Chelsea kurz nach Silvester.

Gegen Watford und Hull testete Pochettino bereits die Dreierkette, seit dem Sieg gegen Chelsea ist sie die Standardausrichtung der Spurs. Obwohl Pochettino weiterhin auf die Flexibilität seiner Elf schwört. "Meine Mannschaft sollte die Gegner überraschen können", sagt der Trainer, "es ist wichtig, dass wir mit verschiedenen Systemen umgehen können." Am optimalsten betont aber dieses 3-4-3 die Stärken seiner Elf. Oder in den Worten der philosophischen Wertschöpfung: Am optimalsten realisiert es die ideellen Werte des Fußballs, des schönen Spiels.

Reihenweises Profitieren

Auf den Flügeln sind die beiden stürmenden Außenverteidiger Rose und Walker frei und gar nicht eingeschränkt. Sie haben dank der eingerückten Offensivspieler Platz vor sich und dank der defensiven Dreierkette Absicherung hinter sich. Mit ihren Sturmläufen sorgen sie für Breite im Spiel.

Im zentralen Mittelfeld sind Wanyama und Dembele die Referenzpunkte. Speziell Wanyama macht sich mit seinen überzeugenden Leistungen mehr und mehr zum Schlüsselspieler, zweikampfstark beackert er die angreifenden Gegner. Die Adelung erfuhr der 25-jährige Kenianer jüngst von Chelsea-Trainer Antonio Conte, der ihn als Tottenhams entscheidenden Akteur bezeichnete. Conte lobte Wanyamas "Qualität, Ausdauer, Arbeitseifer und Hingabe" und durfte sich nach der Niederlage auch bestätigt fühlen.

Wanyama und der technisch häufig unterschätzte Dembele erobern die Bälle und verteilen sie an Eriksen und Alli, die kreative Schaltzentrale Tottenhams. Durch die Umstellung auf ein 3-4-3 spielt das Duo zentraler. Eriksen und Alli profitieren dort voneinander - und davon letztlich das gesamte Angriffsspiel der Spurs.

Besonders Kane, die zentrale Spitze, die wieder und wieder hervorragend in Szene gesetzt wird. 13 Treffer erzielte Kane in dieser Saison bereits, fünf in den vier Spielen seit der Systemumstellung. Kane ist der Vollender des Gesamtkunstwerks. "Es gibt keine Schwachstelle in der ersten Elf", analysierte Ex-Spieler Jermaine Jenas kürzlich, "alle Spieler passen perfekt zueinander".

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Listige Taktik, exzellente Menschenführung

Pochettino wird das gerne hören, aber er wird es wohl nicht glauben. Schon alleine wegen des Umstands, dass er noch reichlich unerschöpftes Potenzial in seiner Mannschaft ausgemacht hat. "Wir sind alle jung, die Mannschaft ist jung, ich bin auch jung und wir sind in einem Prozess", sagt Pochettino, "wir brauchen Zeit und Geduld."

44 Jahre ist Pochettino mittlerweile jung. Vor ziemlich genau vier Jahren kam er nach England und übernahm den FC Southampton. Begrüßt wurde er dort mit einer medial vorgetragenen Frage der Vereinslegende Lawrie McMenemy: "Bei allem Respekt, aber was hat der schon für eine Ahnung von unserem Sport?" Sein neuer Arbeitgeber antwortete umgehend und argumentierte, Pochettino sei "ein listiger Taktiker und ein exzellenter Menschenführer".

Pochettino antwortete in Form von Taten und führte die Saints in eineinhalb Jahren von Platz 15 auf Platz acht, ehe er sich 2014 der Spurs annahm und aus ihnen die spannendste Mannschaft der Liga formte. "Wenn man als Manager in ein neues Land kommt, muss man demütig sein und erkennen, dass jede Kultur ihre Eigenheiten hat", sagt Pochettino im Rückblick, "trotzdem muss man seine Ideen einbringen."

Kriegerische Spurs

Neben all den lautstark umtosten Guardiolas und Mourinhos und Klopps, die mal bejubelt und mal zerrissen werden, steht Pochettino meist etwas abseits des Scheinwerferlichts. Ihn scheint das nicht zu stören, er kann in Ruhe arbeiten und wertschöpfen. Einst bei Southampton, jetzt bei Tottenham.

Während Pochettino die öffentliche und mediale Wertschätzung für seine Arbeit erst langsam und nur Stück für Stück erfährt, ist ihm die seiner Spieler schon längst gewiss. "Für mich ist er wahrscheinlich der beste Trainer der Welt", sagte Kane jüngst, "wir wollen alle für ihn kämpfen."

Um das zu wissen, brauchte Pochettino aber eigentlich gar nicht die Worte seines Stürmers. "Man sieht, dass wir Krieger sind", sagt er. Fußball-Krieger, die derzeit so ansehnlich kämpfen, wie man nur ansehnlich kämpfen kann.

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