"Zeitweise war er der kreativste Spieler des Teams", schrieb der englische Daily Star kürzlich in seiner Analyse der Saison von Premier-League-Absteiger Sunderland. Gemeint war damit kein Stürmer, kein Mittelfeldspieler und nicht einmal ein Verteidiger. Gemeint war der Tormann, Jordan Pickford. Für die nächste Saison braucht Sunderland aber einen neuen Kreativ-Kopf, denn der 23-Jährige wechselte für 28,5 Millionen Euro zu Everton. Leistungsbezogen könnte die Ablösesumme noch auf 34 Millionen Euro steigen, dann wäre Pickford der drittteuerste Tormann aller Zeiten. Der teuerste britische Tormann ist er sowieso.
"Es ist nur eine Zahl, oder nicht?", beantwortete Pickford neulich eine Frage nach der hohen Ablösesumme mit einer Gegenfrage. Recht hatte er damit natürlich und konnte sich sogleich wieder dem aktuell wirklich wichtigen Thema seines Lebens widmen: Wie soll er nur umgehen mit all dem Dank vom Kollegen Ben Chilwell? In der Liga sind der Linksverteidiger von Leicester City und Pickford Rivalen, in der englischen U21 spielen sie aber miteinander. Derzeit bei der U21-EM in Polen und da hatte Chilwell seinem Kollegen Pickford so einiges zu verdanken.
Gleich im ersten Gruppenspiel gegen Schweden, es lief schon die Schlussphase und es stand noch 0:0, war England dem Fehlstart ganz nahe. Chilwell hatte Linus Wahlqvist im Strafraum gefoult und Pickford musste das ausbaden: Elfmeter halten oder wohl nach der Gruppenphase heimfahren. Und Pickford hielt natürlich, reflexartig schnellte seine rechte Hand nach oben. Unentschieden gerettet. "Danke Kumpel, du hast mir aus der Scheiße geholfen", sagte Chilwell.
Dann brauchte es im folgenden Spiel gegen Polen unbedingt einen Sieg und England gewann mit 3:0. Gefeiert wurde auf der Insel danach aber keiner der drei Torschützen oder Vorlagengeber, gefeiert wurde Pickford. Mit einem perfekten Abstoß hatte er das 1:0 eingeleitet. Chilwell kam in den Genuss der Annahme und Weiterverarbeitung des Balles, aber das war dann auch nicht mehr so schwierig. Per Handzeichen hatte Pickford zuvor ja schon alles erklärt.
Durch das Ligensystem geliehen
Das Organisieren des Spielaufbaus ist eine von Pickfords großen Stärken. Das Angriffeeinleiten. Das Taktvorgeben. Wie professionelle Dartspieler präzise ihre Pfeile auf der Scheibe verteilen, verteilt er die Bälle über den Platz. "Brillant", nannte Chris Kirkland, einst Ersatzkeeper hinter Pickford bei Preston North End, diese Fähigkeit mal: "Ich habe noch nie jemanden gesehen, der den Ball so gut verteilt wie er."
Trotz seines jungen Alters hat Pickford den Ball schon für erstaunlich viele Vereine verteilt. Vereine, die man nicht unbedingt mit einem Millionen-Keeper verbinden würde, sondern solche, die sich FC Darlington, Alfreton Town, Burton Albion, Carlisle United, Bradford City oder eben Preston North End nennen. Immer per Leihe. Nirgendwo blieb Pickford länger als ein paar Monate und das heißt, er hatte Erfolg. Überall etablierte er sich schnell als Stammkeeper und wurde bald zu groß für den jeweiligen Klub.
Mit 17 und 18 spielte Pickford in der fünfthöchsten Liga bei Darlington und Alfreton. Mit 19 in der vierten bei Burton. Mit 20 in der dritten bei Carlisle und Bradford. Mit 21 in der zweiten bei Preston. Statt im geschützten Raum des Jugendfußballs, wuchs Pickford im Männerfußball auf. "Dort musste er sich von Beginn an wie ein Erwachsener benehmen", sagt Sunderlands Tormann-Trainer Adrian Tucker.
Als erwachsener Minderjähriger ließ sich Pickford durch das englische Ligensystem verleihen. Von ganz unten bis an die Spitze. Bis in die Premier League. Denn irgendwann durfte er doch noch für seinen Lieblingsklub spielen. Den Klub, dem Pickford seit er acht Jahre alt ist gehört: den AFC Sunderland.
Pumpen und klopfen
Im Januar 2016 war es soweit, Pickford kehrte erstmals langfristig heim nach Sunderland und zur Begrüßung sagte der damalige Trainer Sam Allardyce: "Er muss an seinem Körper arbeiten und oft in den Fitness-Raum gehen." Die Platzhalter im Tor hießen Vito Mannone und Costel Pantilimon und denen ließ Allardyce direkt nach Pickfords Rückkehr ausrichten: "Jetzt haben sie mehr Druck, jetzt ist jemand da, der an ihre Türe klopft."
Pickford begann also im Fitness-Raum zu pumpen und an der Stammkeeper-Türe zu klopfen. Anfangs noch etwas leise und verlegen, zwei Mal durfte er in der Rückrunde starten. Im Sommer klopfte er dann schon lauter, aber zu einem Stammplatz reichte es erst, als der nominelle Stammkeeper Mannone selbst klopfte. An der Krankenhaus-Türe nämlich. Nach dem zweiten Spieltag hatte er sich eine Ellenbogenverletzung zugezogen und musste passen. Pickford bekam seine Chance und überzeugte David Moyes, der mittlerweile das Traineramt übernommen hatte: "Pickford hat alle Eigenschaften, die wir verlangen."
Und die wären: Reflexe auf der Linie, Beherrschung des Strafraums, Lösen von Eins-gegen-Eins-Situationen, Kommunikation mit den Kollegen und, klar, Aufbau des Spiels. Der Daily Star erklärt den 1,85 Meter großen Pickford derweil zur idealtypischen Mischung aus Claudio Bravo und Joe Hart: Das fußballerische Talent des Chilenen, die Reflexe des Engländers. Das Lob-Repertoire reicht darüber hinaus von "tapfer" (Moyes) bis "mental stark" (Tucker) und Moyes fasst zusammen: "Er hat in seiner bisherigen Karriere alles richtig gemacht."
Herz in Sunderland, Trainer-Freistöße bei Everton
Und trotzdem steht da dieser traurige Makel: Abstieg. Ab dem vierten Spieltag stand Sunderland in der vergangenen Saison auf einem Abstiegsplatz und am Ende war es Letzter. Während der Klub aber zunehmend belächelt wurde, wurde Pickford zunehmend gefeiert. Seine starken Leistungen im Herbst beförderten ihn erstmals ins Nationalteam, zuvor hatte er bereits sämtliche Junioren-Nationalteams durchlaufen. Der Berufung folgte aber der Schock: Pickford zog sich eine Knieverletzung zu, fehlte zwei Monate - und kehrte danach wie selbstverständlich ins Tor von Sunderland zurück.
Pickford hielt letztlich die zweitmeisten Schüsse aller Tormänner der Premier League und stieg trotzdem ab. Ihn schmerzte das wohl mehr als andere, denn Pickford ist nicht nur Tormann, sondern auch Fan. "Mein Herz gehört Sunderland", sagt Pickford, und "es ist nicht schön zu sehen, dass Leute, die hier arbeiten seit ich ein Kind bin, wegen unserem Abstieg ihren Job verlieren."
Pickford hatte nach dem Abstieg dagegen keine Probleme bei der Job-Suche. Er war in England gefragt wie kein zweiter Tormann und entschied sich für Everton, wo er für fünf Jahre unterschrieb. "A great club, a massive club", lobt Pickford seinen neuen Verein, ganz besonders freue er sich aber auf seinen künftigen Trainer Ronald Koeman, über dessen Vergangenheit er sich selbstverständlich schon bestens informiert hat: "Ich bin zu jung, um ihn als Spieler erlebt zu haben, aber ich habe gehört, dass er ein Freistoß-Spezialist war und das immer noch gerne macht."
Bis sich Pickford im Training von Everton aber um Koemans Freistöße kümmern kann, warten noch welche von deutschen U21-Nationalspielern. Und irgendwann wohl auch von deutschen A-Nationalspielern. "Ich hoffe, dass Pickford bald Englands Nummer Eins ist", sagte Moyes neulich, "und ich sehe keinen Grund, der dagegen sprechen würde."