Der 64-jährige Marcelo Bielsa gilt bekanntlich als Inspiration für einige der besten Trainer der Welt. Für Mauricio Pochettino etwa oder für Pep Guardiola, der nach seiner aktiven Karriere sogar extra nach Argentinien reiste, um mit Bielsa Fußball zu schauen und von ihm zu lernen. "Den besten Trainer der Welt", nannte Guardiola Bielsa mal.
Mittlerweile trainiert Bielsa den englischen Zweitligisten Leeds United - und scheiterte als Tabellendritter in der vergangenen Saison knapp am Aufstieg in die Premier League. Geschlagen unter anderem vom zweitplatzierten Sheffield United. Gefragt nach deren Trainer Chris Wilder, sagte Bielsa mal: "Er hat neue Ideen und ich habe bisher sehr wenige Trainer mit diesen Ideen gesehen." Und Bielsa hat schon viele Trainer gesehen, angeblich verfügt er über eine Videosammlung von über 7000 Spielen.
Welche Idee Bielsa meint? Die Idee des hinterlaufenden Innenverteidigers. Es ist Wilders taktische Innovation, die ihm dabei half, Sheffield innerhalb von dreieinhalb Jahren von der drittklassigen League One in die Premier League und dort in die obere Tabellenhälfte zu führen. Nach drei Siegen aus den vergangenen vier Spielen beträgt der Rückstand des Vereins mit dem geringsten Budget der Liga auf einen Champions-League-Platz lediglich drei Punkte.
"Schicksal": Wie Chris Wilder Sheffield-Trainer wurde
Alles begann im Mai 2016 beim Endspiel eines Turniers zwischen Pub-Mannschaften, das in Sheffields Stadion Bramall Lane ausgetragen wurde. Sheffield rangierte gerade im Tabellenmittelfeld der League One, war so schlecht wie seit den 1980er Jahren nicht mehr. Vorstand Kevin McCabe reiste also aus seiner Heimatstadt Scarborough im Nordosten des Landes nach Sheffield, um Trainer Nigel Adkins in einem persönlichen Gespräch zu entlassen.
Am Vorabend besuchte er das Endspiel an der Bramall Lane und traf dort zufällig auf Wilder, den man dort oft zufällig trifft. Wilder stammt aus der nahen Stadt Stocksbridge und ist seit seiner Kindheit Sheffield-United-Fan. Als er einst Balljunge wurde, erfüllte sich ein großer Traum, und als er später Rechtsverteidiger wurde, ein noch größerer.
Nach seinem Karriereende trainierte Wilder zunächst Vereine, die sich Alfreton Town und Halifax Town nennen, dann die Viertligisten Oxford United und Northampton Town, das er zum Aufstieg in die League One führte. Als er an diesem Mai-Abend die Bramall Lane besuchte, hatte er dem damals gerade in die League One abgestiegenen Charlton Athletic bereits seine Zusage gegeben. Doch dann traf er McCabe. Die beiden kamen ins Gespräch und tauschten ihre Nummern aus.
"Dieses Treffen war Schicksal", sagte McCabe später gegenüber The Athletic und beschloss, Wilder am nächsten Tag anzurufen: "Ich habe ihn gefragt: 'Lust, auf ein Gespräch vorbeizukommen?' Und er sagte sofort: 'Ja.'" Das Gespräch verlief gut, aber war es auch anders zu erwarten? Sheffield ist schließlich sein Klub, das musste er machen. Wilder also sagte Charlton doch noch ab und unterschrieb bei Sheffield.
Chris Wilders Idee: die hinterlaufenden Innenverteidiger
Der Start in die neue Saison misslang jedoch, von den ersten sieben Pflichtspielen verlor Wilder fünf. Dann ging es auswärts gegen den FC Gillingham und Wilder, der jahrelange Verfechter einer Viererabwehrkette, stellte gemeinsam mit seinem Co-Trainer Alan Knill auf ein 3-5-2-System um. In der kompletten restlichen Saison folgten lediglich fünf weitere Niederlagen und Sheffield stieg als Meister in die zweitklassige Championship auf.
Die beiden äußeren Innenverteidigerposten im neuen System übernahmen der gelernte Mittelfeldspieler Chris Basham, der 2014 vom FC Blackpool nach Sheffield gewechselt war, und Jack O'Connell, zuvor beim AFC Rochdale aktiv. Zwei technisch beschlagene Defensivspieler. Ihre Spielweise ist es, die Bielsa so begeistert. Sie füllen Wilders Idee der hinterlaufenden Innenverteidiger bis heute mit Leben.
Und diese Idee sieht so aus: Anders als in einem gewöhnlichen 3-5-2-System sind nicht nur die äußeren Mittelfeldspieler für Flügelläufe und Flanken verantwortlich. Regelmäßig rückt beim Aufbauspiel auch einer der beiden ins Zentrum, um dort Überzahl zu schaffen und gleichzeitig - je nach Seite - Platz für Basham oder O'Connell zu schaffen. Der entsprechende Innenverteidiger hinterläuft seinen Vordermann, geht zur Grundlinie und bringt den Ball dann entweder in den Straf- oder Rückraum. Es ist ein einfaches taktisches Mittel, das deshalb so gut funktioniert, weil es so ungewöhnlich ist.
In defensiver Instabilität bei Kontern resultiert es auch nicht, da nicht nur die zwei verbliebenen Innenverteidiger für Absicherung sorgen, sondern durch die Überladung des Mittelfelds auch die regulären zentralen Spieler Oliver Norwood, John Lundstram und John Fleck. Genial? "Ich bin kein Trainer-Guru und es gibt nichts Schlimmeres, als Dinge zu verkomplizieren", sagt Wilder selbst.
Die Top-Vereine tun sich gegen Sheffield United schwer
Nach einem Übergangsjahr in der Championship (Platz zehn) stieg Sheffield im vergangenen Sommer jedenfalls mit der besten Defensive der Liga in die Premier League auf. Wilder wurde von der Trainer-Vereinigung als Guardiolas Nachfolger zu Englands Trainer des Jahres gewählt.
Mit lediglich 17 Gegentoren stellt Sheffield in der Premier League bisher nach dem FC Liverpool die zweitbeste Abwehr. Basham und O'Connell haben ihre Stammplätze auch zwei Ligen höher sicher und standen in dieser Saison bei jedem Ligaspiel in der Startelf - und somit natürlich auch bei den Spielen gegen die Premier-League-Top-Vereine, die sich gegen Sheffield besonders schwer tun: Der FC Chelsea, Manchester United und Tottenham Hotspur kamen nicht über ein Remis hinaus, der FC Arsenal verlor sogar mir 1:2. Am Sonntag geht es gegen Manchester City von Trainer Guardiola, dem Wilder-Bewunderer-Bewunderer.