Nicht zu früh gegen Barca, bitte!

Von Raphael Honigstein
Manchester United hofft darauf, nicht zu früh gegen den FC Barcelona spielen zu müssen
© Getty

Welcher Premier-League-Klub hat in der Champions League die besten Karten, das Heimspiel-Finale zu erreichen? Der FC Arsenal baut auf den neuen Jens Lehmann, die Leistungsträger der Tottenham Hotspur spielen, weil der Trainer das Gegenteil behauptet und Manchester United muss den Barca-Kelch an sich vorüber gehen lassen.

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2009/2010 war keine gute Saison für die englischen Vereine in der Champions League: zum ersten Mal seit 2003 schaffte es kein einziger Premier-League-Klub ins Halbfinale. Dieses Jahr soll es besser laufen, schließlich winkt im Finale ein "Heimspiel" im Wembley-Stadion.

Wie gut sind die Chancen der Engländer vor den Achtelfinal-Festwochen? Höchste Zeit für einen (wie immer leicht subjektiven) Formcheck. (10 Punkte = Lionel Messi,  0 Punkte = Petri Pasanen)

FC Arsenal

Tor:

Für viele Beobachter aus der Ferne mag es wie eine Sensation anmuten, aber es ist tatsächlich wahr: zum ersten Mal seit dem Abschied von "Mad" Jens Lehmann spielen die Gunners wieder mit einem Torhüter zwischen den Pfosten. Wojciech Szczesny, der Liebling aller Scrabble-Spieler, ist erst 20 Jahre alt, aber schon jetzt der lang ersehnte Rückhalt. Wie es sich für einen (polnischen) Keeper gehört, punktet er auch in der Exzentriker-Wertung: er war als Teenager ein Turniertänzer, brach sich beim Gewichtheben im Gym einst beide Oberarme und tweetet auf 53szczesny53 wild durch die Gegend. 8

Abwehr:

Welche Abwehr? Nein, das wäre unfair. Abgesehen von dem 4:4-Debakel in Newcastle und zwei unerklärlichen Ausrutschern in Donezk (1:2) und Braga (0:2) vor Jahresfrist spielen Bacary Sagna, Laurent Koscielny, Johan Djourou und Gael Clichy kollektiv eine sehr ordentliche Saison. Vor allem Djourou ist nach dem Ausfall von Thomas Vermaelen enorm wichtig geworden, bei Koscielny wechseln sich Souveränität und Unkonzentriertheit mitunter ab. Gegen ein Team wie Barcelona, das den Ball flach hält und schnell spielt, dürfe man ohne den mittlerweile zu den Spurs abgewanderten William Gallas ein bisschen besser stehen. 6

Mittelfeld:

Im Vergleich zum Viertelfinale vor einem Jahr, als die Londoner von Pep Guardiolas Truppe über weite Strecken regelrecht vom Platz gefegt wurden, hat sich Arsenal verbessert. Jack Wilshere wird als technisch hoch versierter Wadenbeißer in der Zentrale neben Alexandre Song mit jedem Spiel einflussreicher. Der zunehmend zum Giftzwerg mutierende Cesc Fabregas bekommt dank des 19-Jährigen mehr Freiheiten nach vorne. Rechts brilliert (der wohl rechtzeitig fitte) Samir Nasri, ein Kandidat für die Wahl zum Spieler der Saison, links hat Andrej Arschawin nach einer dreimonatigen Schöpfungspause zum Glück wieder mit dem Kicken angefangen. 8

Sturm:

Robin van Persie ist der Schlüsselspieler: wenn er dabei ist, ist Arsenal eine ganz andere Mannschaft. Der verletzungsanfällige Niederländer hat in den letzten zwölf Matches nicht nur zwölf Mal getroffen, sondern auch alle seine Mitspieler besser aussehen lassen. Der nahe an der Weltklasse operierende "RVP" gibt den sonst endlosen Ballstafetten eine Ziel-Adresse und Wenger Zuversicht, dass sich das Barca-Debakel nicht wiederholt. 9

Fazit:

Arsenal kommt definitiv ins Wembley-Finale - am 27. Februar geht es gegen Birmingham um den Ligapokal. In der Königsklasse ist trotz 31 von 40 möglichen Punkten auf der PLI-Richterskala leider gegen Barca Endstation, denn wenn den Gunners eines nicht liegt, ist es ein Team, das ihnen konsequent das Spielgerät vorenthält. Arsenal ohne Ball ist eine Truppe auf Cold Turkey: depressiv, reizbar, hilflos. "Beide Mannschaften haben sich seit dem letzten Jahr verbessert", behauptet Wenger, das verheißt auch wirklich nichts Gutes. Vielleicht schießt Lionel Messi dieses Mal im Camp Nou ja acht Tore. 31 Wembley-Punkte

FC Chelsea

Tor:

Petr Cech hat ein wenig von seiner Souveränität im Strafraum verloren, gehört aber immer noch zu den weltbesten Torhütern. Die Abstimmung mit Branislav Ivanovic war zuletzt ausbaufähig: der Serbe hätte ihm beim 0:1 gegen Liverpool fast den Kopfschutz weggetreten. Macht aber nichts. 8

Abwehr:

Mit David Luiz haben die Blues einen großartigen Mann gekauft. Ob Innenverteidigung, rechts außen oder als Hilfsstürmer - der 23-Jährige kann überall spielen, nur nicht in der Champions League. Er kam leider schon für Benfica zum Einsatz. Also muss neben John Terry wieder Ivanovic in die Mitte. Das lässt eine Lücke rechts in der Viererkette, wo Chelsea seit knapp zehn Jahren nicht die richtige Lösung findet. Gegen Kopenhagen bekommt Jose Bosingwa, der einbräuige Portugiese, wieder eine Chance. Für den ganz großen Wurf reicht das wohl nicht. 7

Mittelfeld:

Chelseas System vertraute in der Vergangenheit zu großen Teilen auf die Dampfkraft der Zentrale. In dieser Saison entspringt aus der Mitte kaum ein Schuss: Frank Lampard läuft nach langer Verletzungspause seiner Form ebenso hinterher wie Michael Essien. Florent Malouda, der beste Londoner im vergangenen Jahr, spielt wieder so schwach wie in seiner ersten Saison und Ramires ist ganz okay. Nicht mehr. 6

Sturm:

Seit dem 59-Millionen-Euro-Wechsel von Fernando Torres hat Carlo Ancelotti in zwei Spielen vier verschiedene Formationen ausprobiert, unter dem Strich stehen 0 (in Worten: null) Tore. Didier Drogba (Malaria-Nachwehen) und Nicolas Anelka (chronisches Phlegma) kommen nicht richtig in Schwung und müssen nun zu allem Überfluss um ihre Stammplätze fürchten. Wer die Jungs kennt weiß: es wird diese Saison noch richtig knallen. So oder so. 7

Fazit:

Für die Meisterschaft ist Chelseas AH-Elf nicht mehr zu gebrauchen, aber ein letztes Hurra in Europa ist den Blauen zuzutrauen. Ancelotti hat aus seiner Zeit beim AC Milan Erfahrung mit dieser Gemengelage und die braven Dänen sind zum Auftakt der KO-Runden ein angenehmer Gegner. Stranger things have happened... 28 Wembley-Punkte

Tottenham Hotspur

Tor:

Heurelho Gomes ist ein Experte für unhaltbare Bälle, mit den haltbaren hat er es manchmal nicht so. Der Brasilianer wird zwar nicht mehr als "dodgy keeper" verspottet, aber Restzweifel an seiner Klasse bleiben. Fairerweise muss man anmerken, dass der am Dienstagabend im San Siro seinen 32. Geburtstag feiernde Torhüter auf Grund der beherzten Offensivtaktik seines Teams auch jede Menge Gelegenheit bekommt, daneben zu greifen. 6

Abwehr:

Die Spurs sind hinten robuster geworden, vor allem Michael "Daws" Dawson und William Gallas funktionieren als Duo in der Innenverteidigung. Benoit Assou-Ekotto ist zwar ein Astronaut, der laut eigener Aussage oft nicht weiß, wie gerade die gegnerische Mannschaft heißt, aber in seinen Leistungen konstant. Rechts musste der brave Geradeaus-Renner Alan Hutton zuletzt Platz für Vedran Corluka machen; der Kroate ist weniger aktiv nach vorne, steht aber hinten besser. Der im Januar verpflichtete Südafrikaner Bongani Khumalo wird  - sehr zum Leidweisen der englischen Überschriftenmacher - gegen den Klub von Silvio "Bunga Bunga" Berlusconi übrigens nicht zum Einsatz kommen. Insgesamt scheint der Begriff "Bollwerk" eher unangebracht. 6

Mittelfeld:

Sprintwunder Gareth Bale plagt seit Wochen eine Rückenverletzung, Spielmacher Luka Modric laboriert an den Folgen einer Blinddarmentzündung. Beide wurden von Trainer Harry Redknapp vor ein paar Tagen für das Spiel in Mailand abgeschrieben - sie können also definitiv spielen. Jermaine Jenas oder Wilson Palacios haben im zentralen Mittelfeld nicht die Qualität von Modric, rechts steht der Wusler Aaron Lennon im Verdacht, aus seinen hervorragenden Anlagen wegen Defiziten im kognitiv-neurologischen Bereich zu wenig zu machen. Mit Bale/Modric: 8. Ohne: 5.

Sturm:

Die Spurs haben derzeit ein kleines Mittelstürmerproblem: weder Jermaine Jenas, Roman Pawljutschenko noch Peter Crouch treffen in dieser Saison regelmäßig. Mit Rafael van der Vaart als hängende Spitze fällt das Manko jedoch nicht ganz so stark ins Gewicht. Der Niederländer hat laut Redknapp noch Oberschenkelprobleme. Natürlich spielt er. 7

Fazit:

Tottenham und Bale haben mit den Spielen gegen Inter in der Vorrunde mächtig Eindruck hinterlassen, doch die Mannschaft spielt derzeit nicht ganz so zwingend nach vorne. Die letzten Siege in der Premier League wurden eher herausgeschunden, das spricht auf der anderen Seite für eine im Nordosten Londons ungewohnte Widerstandskraft. Die Außenseiter haben zumindest eine Chance ins Viertelfinale zu kommen, wenn sie nicht schon im Hinspiel abgeschossen werden. 27/24 Wembley-Punkte

Manchester United

Tor:

Der große, lange Edwin van der Sar will in seinem letzten Profi-Jahr ein weiteres Mal die Champions League gewinnen, das Format dazu hat er mit seinen 40 Jahren immer noch. Der Mann ist eine sicherere Bank als die Bank of England. 9

Abwehr:

Angesichts einer einzigen, einsamen Niederlage in der Liga müsste die Defensive das Prunkstück sein. Aber so richtig kann man sich nur für die Weltklasse-Innenverteidiger Rio Ferdinand (angeschlagen) und Nemanja Vidic begeistern.  Patrice Evra macht hingegen ein wenig den Eindruck, als ob er sich noch nicht ganz von Ivica Olic' Tor beim 1:2 in München vor einem Jahr erholt hat, der Franzose knüpft momentan nicht an seine grandiosen Leistungen von 2007-2009 an. Rechts steht Alex Ferguson nach dem Rücktritt von "Red Nev" Gary Neville vor der schwierigen Wahl: Hitzkopf Rafael oder Holzkopf John O'Shea? United ist, das zeigte auch das Derby gegen ManCity, eine Art (rote) Avocado: innen steinhart, außen cremig weich. 6

Mittelfeld:

Die Lottozahlen lassen sich einfacher vorhersagen als Sir Alex' ständig wechselnden Kombinationen in der Zentrale. Eigentlich ist es fast egal, ob Ryan Giggs, Darren Fletcher, Paul Scholes, Anderson oder Michael Carrick (vorzüglichen) Dienst nach Vorschrift leisten, denn den Unterschied macht dieses Jahr Nani aus. Der Portugiese ist nicht mehr ein bemühter, verspielter Cristiano Ronaldo-Abklatsch, sondern Uniteds herausragender Spieler in dieser Saison.  8

Sturm:

"Welcome back, Wayne" hieß es nach dem Fallrückzieher gegen City auf der Insel, doch wer kann schon sagen, ob Rooney tatsächlich zu sich zurück gefunden hat. Auch der englische Superstar war/ist ja seit der Last-Minute-Niederlage in München, als er sich eine Knöchelverletzung zuzog, nur ein Schatten seiner selbst. Dimitar Berbatow spielt dagegen eine gute Runde, hat aber das Pech, dass Ferguson in den wichtigen Matches ein System mit einem Stürmer bevorzugt. Javier "Chicharito" Hernandez ist trotz seines wenig Furcht einflößenden Kampfnamens ("kleine Erbse") ein hervorragender Joker. 8

Fazit:

Mit ein bisschen Losglück - nicht zu früh gegen Barca, bitte - hat United alle Möglichkeiten, das dritte Endspiel in vier Jahren zu erreichen. Fergusons Mannschaft spielt zwar keinen begeisternden Fußball, hat aber das magische Talent, Hasen, oder besser gesagt Siege, aus dem Nichts hervor zu zaubern. 31 Wembley-Punkte

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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.comtätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.

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