Da steht er also am Rand des Platzes, schlabbriger Trainingsanzug, Dreitagebart, eine Zigarette im Mundwinkel und gerne einen Espresso in der Hand, den er sich vor jedem Training an die Seitenlinie bringen lässt, und schaut seiner Mannschaft beim Üben zu. Er, das ist Maurizio Sarri, der Trainer des SSC Neapel. Der Mannschaft, die in dieser Saison trotz Tabellenführer Juventus Turin den spektakulärsten Fußball der Serie A TIM spielt.
So leger wie Maurizio Sarri jetzt am Spielfeldrand steht, tat er das nicht immer. Früher, als er noch nicht in der High Society des italienischen Fußballs verkehrte; früher, als er noch in tieferen Ligen trainierte, trug er hin und wieder auch edle Anzüge, wenn er seine Mannschaften betreute. Fein geschnitten und natürlich mit entsprechender Krawatte. All das trug er aber nicht etwa, weil er großen Wert auf besonders adrette Kleidung legte, sondern weil schlicht keine Zeit zum Umziehen blieb. Sarri arbeitete hauptberuflich als Banker und ging nach Dienstschluss seiner Leidenschaft nach.
Als Banker verschlug es ihn in die Schweiz und auch nach Luxemburg. Gelegentlich sogar nach London. Am wohlsten fühlte er sich aber nicht etwa unter dem Big Ben, sondern an den Spielfeldrändern der toskanischen Fußballplätze. Tribünen hatten die wenigsten, Sarri trainierte in der achthöchsten Spielklasse. Der untersten. Kurz bevor er mit US Stia sein erstes Team übernahm, 1990 war das, gewann der SSC Neapel seine zweite und bis heute letzte italienische Meisterschaft.
Mister 33 schemi
Der Absturz vom Gipfel erfolgte schnell. Heilsbringer Diego Armando Maradona verließ den Verein, 1998 musste der SSC absteigen. Sarri trainierte unterdessen in der siebten Liga, der sechsten, der fünften und auch in der vierten Liga. Nur eines blieb immer gleich: Sein Spitzname "Mister 33 schemi." So viele Formationen zur Ausführung von Standardsituationen beherrschten seine Mannschaften der Legende nach stets.
Mit dem AC Sangiovannese schaffte Sarri 2004 den Sprung in die dritthöchste Spielklasse - seinen Job als Banker hat er mittlerweile aufgegeben. In diesem Jahr investierte einige hundert Kilometer südlich ein Filmproduzent namens Aurelio de Laurentiis 35 Millionen Euro, um sich einen anderen Drittligisten zu kaufen: Den bankrotten SSC Neapel. Bis heute ist de Laurentiis Präsident von Napoli.
Die Investition sollte sich schnell lohnen, Napoli kehrte bereits 2007 wieder in die Serie A zurück und etablierte sich bald in der Spitzengruppe. Sarri stieg sieben Jahre später, 2014, mit dem FC Empoli auf. Seine 24-jährige Reise durch alle Stufen des italienischen Ligensystems endete in der Serie A TIM. Erfreut stellte er fest: "Man bezahlt mich für eine Arbeit, die ich sonst gratis am Feierabend gemacht habe."
Zurück zu den Wurzeln
Seit Sommer 2015 wird er für seine Arbeit vom SSC Neapel bezahlt. Zwar nur immerhin ein Fünftel so gut wie sein Vorgänger Rafael Benitez, aber immerhin. Sarris Vorstellung im Stadion San Paolo war für ihn wie eine Heimkehr zu seinen Wurzeln. Drei Kilometer von seinem Geburtsort Bagnoli, den er in seiner Kindheit verließ um mit seiner Familie in die Toskana zu ziehen, entfernt steht das San Paolo - ein Kreis schloss sich.
Wirklich kreisrund war zu Beginn aber nicht viel. Sarri blies Gegenwind entgegen. "Einen Provinztrainer", nannte ihn der Stadtheilige Maradona. Und was der Stadtheilige sagt, das hat Gewicht. Drei sieglose Spiele zu Saisonbeginn taten ihr Übriges. "Es tut mir leid für ihn, doch er ist nicht auf der Höhe", sagte Maradona, um ein knappes halbes Jahr später nachzuschieben: "Sarri ist genial."
All das Getöse um seine Person tangierte Sarri eher peripher. "Er nimmt die hysterische Fußball-Atmosphäre nicht ganz so ernst", sagt Italien-Korrespondent Oliver Birkner im Gespräch mit SPOX. Und das soll was heißen in der hysterischsten aller hysterischen italienischen Fußball-Städte. Sarri sei einfach "bodenständig und hat einen trockenen Humor", umreißt Birkner sein verbales Schutzschild. Und überhaupt: "Nach dem ganzen Naserümpfen der ersten Wochen hat man ihn schnell liebgewonnen."
Vertikal statt horizontal
Statt sich in öffentliche Zwistigkeiten mit Vereinslegenden zu verstricken, trichterte Sarri seinen weltbekannten und millionenschweren Spielern von Beginn an die gleiche Botschaft ein, die er wenige Jahren zuvor noch toskanischen Hobbykickern vermittelte: Vertikal statt horizontal! Zu Zweitligazeiten erklärte Sarri sein Credo: "Man muss das Spiel so vertikal wie möglich machen, wenn nötig eben wieder zurück und so wenig wie möglich quer spielen."
Seine Spieler verinnerlichten die Botschaft. "Napoli spielt ein sehr frühes Pressing, sie schalten unglaublich schnell um und gehen ein hohes Tempo", sagt Birkner. Das ist ungewöhnlich in Italien. Ungewöhnlich ist es auch, eine Fußballmannschaft mit einem Chamäleon zu vergleichen. Bei Napoli ist diese Metapher aber durchaus angebracht. "Die Mannschaft kann sich unglaublich gut an ein Spiel anpassen, sie kann während eines Spiels viel variieren", sagt Birkner, "wenn es gerade nicht so läuft, spielen sie phasenweise abwartender, mit langen Bällen und nutzen ihre Konter dann blitzartig."
Auf dem Platz steht zumeist dieselbe Elf, Sarri lässt wenig rotieren - und reagiert so auf einen Fehler, den sein Vorgänger gemacht hat. Benitez würfelte seine Startelf von Spiel zu Spiel aufs Neue durch und verunsicherte so etwa Kapitän Marek Hamsik, der weniger Spielzeit bekam als gewohnt. "Das ist den Leuten irgendwann auf den Geist gegangen", sagt Birkner. Kurz: "Benitez hat in seiner zweijährigen Amtszeit völlig versagt."
Fester Stamm mit Hund
Jetzt spielt Napoli ein klares 4-3-3 mit einem festen Stamm. Jorginho baut das Spiel als Sechser auf, die Halbpositionen versetzt vor ihm bekleiden Marek Hamsik und Allan. Lorenzo Insigne und Jose Callejon kommen über die Flügel. An vorderster Front lauert Gonzalo Higuain - zumindest bis er vom Sportgericht vorübergehend aus dem Verkehr gezogen wurde. Lauert und schlägt meist auch zu. In 31 Ligaspielen traf der Argentinier bereits 30 Mal. Oder, wie es Sarri ausdrückt: "Higuain ist wie ein Hund. Er verschlingt jede Chance, die er bekommt."
Sarri hat es geschafft, die Mentalität der Mannschaft zu verändern. Unter Benitez wirkte sie oft etwas teilnahmslos und träge; begeistern konnte die Elf die Zuschauer selten. Napoli sei "aggressiv, konzentriert und zielstrebig geworden", sagt Trainerikone Fabio Capello jetzt und umreißt so den Kulturwandel, den Sarri in Neapel durchgeführt hat. Das Team lasse dem Gegner "keine Zeit zum Atmen".
Um dieses Spielsystem zu perfektionieren sind Sarri keine Mühen zu groß. Er lässt auch schon mal eine Drohne, bewaffnet mit einer Kamera, über den Trainingsplatz fliegen, um seine Spieler im Anschluss mit den Aufnahmen anschaulich über ihre Fehler aufklären zu können. Die danken es ihm mit guten Leistungen.
Schwarz-weißer Spielverderber
Über lange Strecken der Saison lieferten sich Napoli und Juventus an der Tabellenspitze ein Duell auf Augenhöhe. Zuletzt ließ der SSC aber etwas abreißen. Sollte das Wunder Meistertitel trotz sechs Punkten Rückstand und nur noch sechs ausstehenden Spielen doch gelingen, die Konsequenzen für die Stadt wären nicht abzusehen. Sicher wäre lediglich zweierlei.
Ein lokaler Friseur könnte sich über färbungsbedingte Mehreinnahmen freuen. Neapels Bürgermeister Luigi de Magistris versprach schließlich, sich die Haare bei einem Titelgewinn blau kolorieren zu lassen. Möglicherweise würde der eine oder andere Napoli-Tifosi diesem Beispiel folgen. Und Sarri, der Architekt des Triumphs, wäre nach einer 26-jährigen Reise durch das gesamte italienische Ligensystem am Thron.
Eine Geschichte, die Filmproduzent und Napoli-Präsident de Laurentiis in keinem Bildstreifen kitschiger darstellen könnte. In der Realität steht aber wohl ein schwarz-weißer Spielverderber namens Juventus im Weg.
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