Valentino Mazzola bei Il Grande Torino: Das letzte Puzzleteil
Doch das 2:5 war nicht die erste herbe Pleite, die Juventus 1942 gegen Torino hinnehmen musste. Schon in der Sommerpause des Jahres hatte Novo dem Stadtrivalen einen historischen Dämpfer verpasst - und das auch noch in der Stunde einer eigentlichen Niederlage. Am 31. Mai reiste Torino in froher Hoffnung auf den ersten Scudetto nach 14 Jahren zum AC Venedig. Die AS Rom war noch in Reichweite und Venedig hatte man schon in der Hinrunde geschlagen.
An diesem Tag aber lief alles anders. Der Meisterschaftsanwärter aus Turin wurde von Venedig hergespielt. Genauer gesagt von Ezio Loik und einem gewissen Valentino Mazzola, denen in der Legendenbildung dieses Spiels aufgrund ihres blinden Verständnisses telepathische Kräfte nachgesagt wurden. Juve wollte beide Spieler haben, ließ sich jedoch in dem Glauben, die einzig interessierte Partei zu sein, Zeit. Novo grätschte dazwischen und handelte mit dem unter Druck geratenen Venedig-Präsidenten Aldo Bennato einen Fabeldeal über 1,2 Millionen Lira plus zwei Torino-Spieler im Tausch aus.
Mit Loik und Mazzola wurde Torino 1943 zum ersten Mal nach 15 Jahren wieder italienischer Meister und besonders Mazzola wurde in den kommenden Jahren bei den Tifosi aufgrund seiner Athletik, seine Leaderfähigkeiten, seiner überragenden Technik und seiner Fähigkeit, die ganz engen Spiele im Alleingang entscheiden zu können, wie ein Gott verehrt.
"Il quarto d'ora granata", zu deutsch: "Die Viertelstunde der Granata", nannten die Toro-Anhänger ein bestimmtes Ritual von Mazzola. Immer dann, wenn es nicht lief und Torino einem Rückstand hinterherlief, krempelte sich der Ausnahmefußballer demonstrativ die Ärmel hoch, Torino drehte auf und den Spieß im Spiel meistens noch um.
Valentino Mazzola: Liebling der Fans und der Mitspieler
Die Fans liebten ihren Valentino, weil er trotz seines Standings einer von ihnen geblieben war und die freundschaftliche Nähe der Tifosi suchte. Nach den Spielen ging er mit ein paar Teamkollegen gerne in die Bar Fiorio, um Radio zu hören und sich mit den Fans zu unterhalten.
Vor den Spielen lud er als Mannschaftskapitän regelmäßig die gegnerische Mannschaft zum Essen ins Il Cervo ein. Mazzola war ein Gentleman, ein im Privatleben sehr stiller Mensch, der seinen Sohn Sandro (gilt bis heute als einer der besten Inter-Spieler aller Zeiten) über alles liebte, der aber ohne den Ball als Muße überfordert schien.
Als im Laufe der goldenen Jahre zwischen 1945 und 1949 Gerüchte aufkamen, dass Mazzola Torino verlassen könnte, baten Torino-Spieler Novo darum, ihrem Anführer doppelt so viel zu bezahlen wie ihnen. Dennoch wollte Mazzola am Ende der Saison 1948/49 gehen, weil Inter Mailand ihm ein Angebot gemacht hatte, dass ihm und seiner Familie finanzielle Sicherheit versprach. Zehn Millionen Lira hatte Inter Mazzola angeboten, doch Novo hatte andere Pläne und ließ seinen Superstar nicht ziehen.
Es kam zum Streit und Mazzola warf Novo in einem Brief an den italienischen Sportjournalisten Nino Oppio Egoismus vor. Novo hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass Mazzola seine gesamte Karriere bei Torino verbringen solle und ging dafür sogar auf Konfrontationskurs mit dem beliebten Kapitän. Novos Wunsch sollte sich am 4. Mai 1949 auf tragische Weise erfüllen.
Grande Torino und die Nationalmannschaft: Squadra Granata
Sechs Jahre vor dem Unglück von Superga geriet der Fußball in den Hintergrund. Am gleichen Tag, an dem Torino 1943 durch ein Tor von Mazzola Meister wurde (25. April), landeten die Alliierten Streikräfte in Sizilien. Der Weltkrieg war endgültig in Italien angekommen und der offizielle Ligabetrieb wurde für zwei Jahre unterbrochen.
Gespielt wurde zwar noch, allerdings nur noch auf regionaler Ebene in einem selbst organisierten Turnierformat, das Torino trotz nur zweier Niederlagen in 26 Spielen nie gewann. Nach Kriegsende brach jedoch endgültig die Ära von Grande Torino an.
Erbstein kehrte von seiner Flucht vor den Nazis zurück, Novo verstärkte nochmals die Mannschaft und holte Verteidiger Aldo Ballarin, Mittelfeldmann Mario Rigamonti, Virgilio Maroso, Eusebio Castigliano und Torhüter Valerio Bacigalupo, der bis heute den Beinamen "der Mann mit den Flügeln" trägt.
In den Jahren nach 1945 bestimmte Torino den italienischen Fußball und wurde sowohl sportlich als auch organisatorisch zum Vorbild für alle anderen Klubs in der Serie A. Ein 7:0 über die AS Rom im April 1946 geriet zur Geburtsstunde einer großen Mannschaft. Torino führte bereits nach 19 Minuten mit 6:0 gegen die Roma, die ebenfalls als Titelfavorit galt.
Die Dominanz in der heimischen Liga mit zwei Scudetti in Folge ging nicht spurlos an der italienischen Nationalmannschaft vorbei - zu diesem Zeitpunkt immerhin noch amtierender Weltmeister.
"Ohne Superga einen WM-Titel weniger auf dem Konto"
Am 11. Mai 1947 beim Freundschaftsspiel gegen Ungarn - ein paar Jahre später das Maß aller Dinge im Weltfußball - standen zehn Torino-Spieler in der Startaufstellung. Die Squadra Azzurra wurde zur Squadra Granata und gewann mit 3:2 durch einen Treffer von Mazzola in der letzten Minute.
"Ohne Superga hätten Uruguay und Deutschland heute einen WM-Titel weniger auf dem Konto", so die gängige Annahme unter den Tifosi, die Oreste Comiglio, ein Toro-Edelfan der ersten Stunde, vor Jahren gegenüber dem Spiegel äußerte. Nach dem tragischen Tod eines Großteils der ersten Elf schied Italien bei Uruguays WM-Triumph 1950 in der Vorrunde aus.
Vier Jahre später ging eine deutsche Mannschaft in die Geschichte ein, die als Außenseiter den Titel holte und einer vom Weltkrieg schwer gebeutelten Nation neues Leben einhauchte. Die Hoffnung Italiens auf ein ebensolches Ereignis starb am 4. Mai 1949 in einer Propellermaschine vom Typ Fiat G-212.
Torinos Trip nach Brasilien: Vorboten einer Katastrophe
Bis dahin hatte sich Torino längst den Ruf als absolute Heimmacht erarbeitet. Sechs Jahre lang verlor der Klub kein einziges Spiel im legendären Filadelfia-Stadion, das 1998 aufgrund seines maroden Zustands abgerissen wurde, und wurde nach Kriegsende viermal hintereinander Meister.
Der Erfolg in Italien und besonders die Rekordsaison von 1947/48, als Torino mit 16 Punkten Vorsprung und 125 geschossenen Toren erneut Meister wurde, machte die Mannschaft weltberühmt. Zahlreiche Teams wollten sich mit dem Serienmeister messen und so kam es, dass Torino als eine der ersten Mannschaften zu Freundschaftsspielen nach Brasilien reiste.
Der Hin- und Rückflug wurde für Mazzola und Co. durch schwere Turbulenzen und dem erbärmlichen Zustand der Maschinen zur Tortur. Nach ihrer Rückkehr in Turin wurde bekannt, dass einen Tag zuvor eine Maschine aus Sao Paolo mit 71 Menschen an Bord in den Atlantik gestürzt war. Daraufhin schworen sich einige Spieler, nie wieder fliegen zu wollen.
Nur ein Jahr später brachen sie diesen Schwur für ein von Mazzola vereinbartes und von Novo erst später aufgrund des fast sicheren fünften Scudetto abgesegnetes Freundschaftsspiel in Lissabon.
Benfica-Legende Francisco Ferreira hatte während eines Länderspiels zwischen Italien und Portugal bei seinem guten Freund Mazzola für das Spiel angefragt, um einen großen Gegner für das letzte Spiel seiner Karriere zu haben. Eigentlich sollte das der FC Bologna sein, der zwischen 1936 und 1941 viermal italienischer Meister wurde. Doch Ferreiras Freundschaft zu Mazzola und seine Verehrung für Il Grande Torino änderten die Pläne für das Abschiedsspiel, das zum letzten Auftritt einer großen Mannschaft wurde.