Zeit, um Prinzipien zu brechen

Ben Barthmann
21. Juli 201421:03
Luis Enrique hat beim FC Barcelona das Steuer übernommengetty
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Der FC Barcelona geht mit Luis Enrique nicht nur in eine neue Saison, sondern will auch die beiden letzten Jahre vergessen machen. Luis Suarez und Ivan Rakitic sind dabei nur ein kleiner Teil der neuen Planung.

Lange hat man sich in der Vorstandsriege des FC Barcelona dagegen gewehrt, doch spätestens die letzte Saison unter Gerardo Martino scheint es endlich geweckt zu haben: Das Gefühl der Unterlegenheit. Das Gefühl, das einen dazu antreibt, Änderungen vorzunehmen, die eigene Komfortzone zu verlassen und unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Zwei Jahre lang hat Barca von dem gelebt, was Pep Guardiola in seiner Zeit aufgebaut hatte. Das System, die Spieler und die Herangehensweise wurden nur geringfügig geändert. Tito Vilanova sollte und wollte wohl auch nur einfach das weiterführen, was sein Vorgänger getan hatte. Martino brachte schließlich Änderungen mit sich, die jedoch Stück für Stück wieder fallengelassen wurden.

Die Mischung gefunden

Im dritten Anlauf soll es nun klappen. In Luis Enrique sehen die Cules endlich den Mann, den man sich schon vor Beginn der abgelaufenen Saison gewünscht hatte. Jemand, der den Mut und die Ausstrahlung mitbringt, Dinge umzuwerfen und neuzugestalten. Trotz seiner Barca-Vergangenheit ist Lucho nämlich bei weitem kein typischer Trainer, der den Weg auf die Trainerbank im Camp Nou findet.

Er selbst hatte damals bei seinem Abgang von der zweiten Mannschaft klargestellt, nicht an eine Rückkehr zu glauben. Dabei könnte Enrique die perfekte Mischung sein. Wer die ersten Einheiten in der vergangen Woche beobachtet hat, weiß, warum Spieler, die einst unter ihm gespielt haben, nur in höchsten Tönen von ihm sprechen. Marc Muniesa betitelte ihn als "geborenen Kämpfer." Er ist ein ganz anderer Trainertyp als Vilanova oder Martino.

Voller Energie, laut und jederzeit bereit dazu, in das Feld zu stürmen und seine Spieler zu korrigieren, wirkt er wie das Gegenstück zu seinen ruhigen, abwartenden und oft stoisch wirkenden Vorgängern. So könnte er das Gesicht des Barcelona werden, das er in Zusammenarbeit mit dem oft und hart kritisierten Sportdirektor Andoni Zubizarreta aufbauen möchte.

Barca-DNA mit eigenen Ansichten

Ein wenig offener, ein wenig mehr wie andere Spitzenklubs. Allerdings ohne den eigenen Stil zu verlieren. Denn Enrique ist, trotz seiner Vergangenheit als Real-Spieler, erst im Trikot der Blaugrana richtig aufgegangen. Egal ob bei Celta Vigo oder in Rom, immer setzte der Spanier auf Leute, die aus La Masia stammen. Bojan kam nach Italien, nach Pontevedra folgten ihm Nolito, Andreu Fontas oder Rafinha.

Sie alle sind technisch sowie taktisch bestens ausgebildet und passen perfekt in die Idee, die Lucho verkörpert. Offensives Spiel, das den Zuschauern Freude bereitet. "Mein Team wird angreifen, attraktiv spielen und effektiven Fußball zeigen", kündigte er während seiner Vorstellung an - und war damit nur wenig von Guardiola entfernt, der an gleicher Stelle angekündigt hatte, keine Titel versprechen zu können, aber "immer für die Fans" spielen zu wollen.

Enrique ging aber bei seinen Stationen immer noch einen Schritt weiter. Er will seine Mannschaft dazu "entwickeln, den Gegner jederzeit überraschen zu können." Es ist bei weitem keine Abkehr vom gewohnten Spielstil. Der Ball bleibt flach, kurz und immer am Fuß. Aber seine Mannschaften können auch verteidigen, eine Führung über die Zeit bringen und günstige Situationen im Umschaltmoment perfekt ausspielen.

Zu später Umbruch

Dafür traut sich Enrique etwas, was sich zuletzt niemand zugetraut hatte. Gerüchten zufolge hatte bereits Pep Guardiola vor seinem Abgang gefordert, den Kader tiefgreifend umbauen zu dürfen, wurde jedoch ausgebremst. Die Zeit verging, der Umbruch wurde dringender, aber doch immer wieder aufgeschoben. Nun ist es soweit, Barcelona hat sich, mehr oder weniger freiwillig, dazu entschlossen, den größten Schritt der letzten Jahre zu machen.

Mit Victor Valdes, Carles Puyol und wohl auch Xavi Hernandez verlässt die Achse den Verein, die ihn über die letzten Jahre entscheidend geprägt hat. Führungsfiguren fallen weg, dies könnte die große Chance sein, etwas Neues zu beginnen. Enrique hat das Kapitänsamt freigegeben, erstmals seit langem wird die Binde nicht der Spieler mit den meisten Einsätzen für die erste Mannschaft tragen.

Abkehr vom 4-3-3?

Keiner dieser Spieler ist eins zu eins zu ersetzen, weshalb Änderungen vorgenommen werden. Enrique gilt als Befürworter einer, zumindest situativen, Dreierkette in der Defensive. Sowohl mit der B-Mannschaft, als auch phasenweise mit der Roma und Celta Vigo spielte er gerne ein 3-1-4-2 bei eigenem Ballbesitz.

Dies spiegelt sich bisher auch in der Kaderplanung wieder. Glaubt man den Gerüchten, sind neben Jeremy Mathieu besonders Marquinhos, Rodrigo Caio und Daley Blind in der Verlosung. Alle vier sind Spieler, die auch auf der Außenbahn spielen können und je nach Spielsituation schnell zwischen Außenverteidigung und Innenverteidigung wechseln könnten. Ein Spielertyp, wie man ihn vor zwei Jahren in Eric Abidal hatte.

Seite 1: Enrique und der lang nötige Umbruch

Seite 2: Suarez das fehlende Puzzleteil

Ebenso würde dies das Werben um Juan Cuadrado erklären. Der Kolumbianer ist nicht defensivstark genug, um als Rechtsverteidiger aufzulaufen, könnte allerdings als Wingback funktionieren. Ähnliches gilt für Dani Alves, der seit einem, wenn nicht sogar zwei Jahren weit seiner Form unter Guardiola hinterherhechelt. Beide Spieler könnten weiterhin ihre Offensivqualitäten einbringen, ohne aufgrund der Asymmetrie die defensive Stabilität zu gefährden.

Dann wäre der Weg frei, um Javier Mascherano und Sergio Busquets auf ihrer Paradeposition einzusetzen. Als Sechser vor der Abwehr, ein Spieler, der sowohl das Spiel aufbauen kann, als auch defensiv sicher steht und viele Angriffe im Aufbau schon unterbricht. Enrique schätzt Polyvalenz, nahezu jeder seiner Spieler kann mehrere Positionen spielen. Für ihn dürfte das Spielermaterial beim FC Barcelona wie geschaffen sein.

Sogar auf der Torwartposition hat er die Auswahl aus drei Torhütern, die alle ähnliche Voraussetzungen mitbringen. Im Moment, so Enrique, hat sogar die für die Öffentlichkeit unwahrscheinlichste Lösung die Nase vorn: "Wenn ich jetzt meine erste Elf auswählen müsste, würde ich Masip nehmen." Die Krönung aller Prinzipien, die der Coach vereint: Bedenkenloses Vertrauen in junge Spieler und La Masia, den Mut, alternativ zu entscheiden und den ständigen Konkurrenzkampf durch verschiedenste Spielertypen im Kader.

Die nötige Flexibilität

Dies alles macht Barca flexibel und anpassbarer. Der Kader soll wieder tiefer aufgestellt werden, der Trainer sich mehr auf den Gegner einstellen können. In einer 3-1-4-2-Formation kann die Viererkette durch mindestens drei Methoden hergestellt werden. Über eine der Seiten oder durch den zurückfallenden Sechser. Montoya wäre der Mann für rechts, Alba oder Adriano die Spieler für links, Mascherano und Busquets die Spieler für die Mitte.

Aus dieser defensiven Balance heraus baut sich die restliche Formation auf. Rakitic kann beinahe jede Position im Mittelfeld spielen. Mit Sergi Roberto und derzeit noch Xavi Hernandez stehen zwei Ballzirkulatoren zur Verfügung, mit Andres Iniesta und Rafinha zwei, die Lücken reißen und diese auch selbst zu nutzen wissen. Ibrahim Afellay stellte Enrique aufgrund seiner Vielseitigkeit den Verbleib in Aussicht und lobte ihn ausdrücklich nach dem ersten Test (1:0 gegen Recreativo Huelva).

Es ist das neue Gesicht Barcas, das Lucho plant. Eine flexible Mannschaft, die ihren eigenen Stil hat, aber auch über genügen Stellschrauben verfügt, um sich jederzeit an den Gegner anzupassen. Ein Erfordernis, das es braucht, um Titel zu gewinnen, zuletzt aber konsequent ausgeblendet wurde.

Alexis ein Opfer seiner Leistungen

Betrachtet man diese Planungen, passt auch der Transfer von Luis Suarez ins Bild. Thiago erklärte nach seinem Abgang, beim FC Barcelona habe man mehr Spieler, die sich im eins gegen eins durchsetzen könnten, dafür beim FC Bayern München mehr Spieler, die sich über die Physis Chancen erarbeiten. Suarez ist die Mischung aus beidem.

Ein Spieler, der Unruhe stiftet, der die gegnerische Abwehr aufarbeitet und Platz schafft, für die Dribbler wie Neymar oder Lionel Messi. Diese Rolle nahmen zuletzt Alexis Sanchez und Pedro ein, während letzterer jedoch nicht mehr die geforderte Torgefahr für die erste Mannschaft aufbringt, ist der Chilene ein Opfer seiner eigenen Leistungen geworden.

Mehr Freiheit für Messi

Die Rechnung wirkt so simpel, wie herzlos. Für Suarez musste man einen Offensivspieler opfern. Nicht nur aufgrund der Ablösesumme, sondern auch aufgrund des Platzes im Kader. Die gute Weltmeisterschaft und die wohl bisher beste Saison Alexis' im Barca-Trikot brachten ihn auf den Präsentierteller. Für Pedro hätte man nicht annähernd das gleiche Geld einnehmen können. Zudem ist der Spanier mit dem Klub verbunden und wird sich ohne zu zögern auf die Bank setzen. Alexis hat höhere Ansprüche, er wäre nicht zufrieden gewesen.

Suarez ist nun das Upgrade zum Chilenen und damit auch zu David Villa. Er verkörpert eigene Torgefahr, Stärke mit dem Ball am Fuß und den hundertprozentigen Willen, den Enrique immer und immer wieder seit seiner Ankunft von den Spielern einfordert. Messis Spiel wurde zuletzt immer wieder dadurch gestoppt, dass der Gegner das Zentrum versperrte. Der Argentinier rutschte weiter und weiter zurück, bis der Weg zum Tor letztlich zu lang wurde. Mit Suarez spielt bald ein Spieler vor ihm, der den Weg frei machen kann, denn keine Mannschaft kann es sich leisten, einen von beiden unbewacht zu lassen - von Neymar ganz zu schweigen.

Es ist das größte Teil im Puzzle von Enrique und könnte auch das spektakulärste werden, vorausgesetzt der Spanier vermag es, seine Pläne in Realität umzusetzen. Dann dürfte man wohl das ungewohnte Gefühl der Unterlegenheit in Katalonien auch bald wieder vergessen haben.

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