Eine Spielidee aus Bielsa und Pep

Ben Barthmann
08. September 201613:03
Jorge Sampaoli übernahm im Sommer die Verantwortung beim FC Sevillagetty
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Der FC Sevilla hat in der Primera Division mit Jorge Sampaoli viel vor, der gemeine Fußball-Fan erwartet ein Feuerwerk. Doch steckt wirklich so viel Innovation im neuen Projekt? Die Antwort fällt vor dem Duell mit LaLiga-Spitzenreiter Las Palmas (Sa., 18.15 Uhr live auf DAZN und im LIVETICKER) zwiespältig aus.

"Verrückt muss er sein. Ein Besessener, ein Außenseiter", definierte Sepp Maier einst in der Süddeutschen Zeitung einen guten Torhüter. Doch in Zeiten, in denen zwischen den Pfosten die Manuel Neuers den Oliver Kahns den Rang abgelaufen haben, darf man sich vielleicht fragen, ob das Attribut "verrückt" nicht einen neuen Träger gefunden hat.

Verrückt. Besessen. Außenseiter. Das trifft mittlerweile weniger auf die Keeper dieser Fußballer-Generation als viel mehr auf die Trainer zu. Jürgen Klopp, Pep Guardiola, Jose Mourinho, Antonio Conte - die Premier League hat den wohl buntesten Strauß an Übungsleitern zusammengetragen.

Das Trainer-Duell Englands in diesem Jahr ist der vorläufige Höhepunkt einer Glorifizierung der Männer an den Seitenlinien dieser Welt. Es zieht sich weiter durch ganz Europa. Carlo Ancelotti vs. Thomas Tuchel in Deutschland dürfte das langweiligste Duell dieser Art sein. In Spanien ist man mit den glatt gestriegelten Luis Enrique sowie Zinedine Zidane genauso bestückt wie mit positiv Verrückten ihrer Art wie Diego Simeone, Paco Jemez oder seit neuestem Jorge Sampaoli.

Neue Marschroute mit Sampaoli

Letzterer ist ein echtes Prunkstück seiner Art - und seit Sommer 2016 Trainer des FC Sevilla. Unai Emery verließ den Klub Richtung Paris, Sportdirektor Monchi ergriff die ihm gebotene Chance beim Schopf und lotste den ehemaligen Nationaltrainer Chiles in die Primera Division.

Ein Raunen ist an dieser Stelle durchaus angebracht. Sampaoli. Endlich in Europa. Dieses Trainer-Genie, das aus Chile ein internationales Top-Team machte und mit seinen elf Kriegern auf dem Platz manche Schlacht überraschend für sich gewann. Man muss den 56-Jährigen eigentlich nicht mehr vorstellen, schließlich wurde er 2015 mit Guardiola und Enrique unter die drei besten Trainer der Welt gewählt. SPOXspox

Sevilla geht mit dem Argentinier einen neuen Schritt. Mit Emery stets der Underdog im Duell mit den Großen gewesen, der sich durch geschicktes Umschaltspiel und hohe Emotionalität in jede Partie biss und letztlich dreimal in Folge die Europa League gewann, will der Klub aus Andalusien doch mehr.

Von Reaktion zu Aktion

Die Europa League ist nicht genug, so der Anspruch, der mit der Verpflichtung von Sampaoli neuen Antrieb erhielt. Fünf essentielle Bausteine verließen im Sommer den Kader, bisher kamen neun neue Spieler hinzu. Mit dem Verlust derart wichtiger Säulen wie Gregorz Krychowiak oder Kevin Gameiro ergab sich gleichzeitig eine Chance für den neuen Trainer zum Umbruch.

Nicht nur personell, auch gedanklich findet in Sevilla derzeit ein groß angelegter Umbau statt. Während sich Emery bisweilen für die reaktionäre Handlung entschied, ist Sampaoli ein Freund des Handelns. Dominanz in jeder Phase der Partie gibt er als Ziel aus und ist damit auf den ersten Blick nichts besonderes mehr.

Diese Marschroute ist nicht so neu, nicht so ungewöhnlich, wie gerne getan wird. Der Typ Sampaoli ist es, der aus einem Ansatz, den viele verfolgen, einen so besonderen Fußball macht. "Verrückt muss er sein. Ein Besessener, ein Außenseiter."

Als Amateurtrainer brüllte er einst Anweisungen von einem Baum herab, da er vom Schiedsrichter des Feldes verwiesen worden war. Auf einem Roadtrip durch Europa lernte er sich neues Wissen an - ohne das Geld für Essen und Schlafplatz in jeder Nacht zu haben. In Chile behielt er Vidal trotz Sauftour mitsamt nächtlichem Unfall im Kader und stellte sich damit gegen ein ganzes Land. SPOX

Eine Spielidee aus Bielsa und Pep

Sampaoli vergötterte einst Marcelo Bielsa und dessen radikales Spielmodell, heute lässt er spielen wie viele und gibt das offen zu. Er hat Ideen gesammelt, Anregungen und Lösungen bei anderen Trainern gefunden. Zum kompromisslosen Pressing-Fußball von Bielsa kamen besonders Elemente von Guardiola. Spielaufbau und Positionsspiel senkten die Umschaltaktionen hin zu mehr Ballbesitzzeiten.

Es ist eine interessante Mischung, die dort in Sevilla ensteht. Einerseits ein kurzer Aufbau, heruntergebrochen auf die nötigsten Aspekte und relativ vertikal angelegt, gepaart mit hohem Angriffspressing und direktem Nachsetzen nach Ballverlust. Dazu kommt die alte Schule von Emery und damit ein hervorragendes Umschaltspiel.

Und doch hat er alldem eine persönliche Note verpasst. "Alles hat sich verändert. Der Trainer, die Philosophie, der Stil, die Methoden. Wir versuchen uns so schnell wie möglich anzupassen aber es nicht viel Zeit da", fasste Verteidiger Daniel Carrico zusammen.

Die Basis für sein Sevilla legte Sampaoli durch eine stark veränderte Struktur im eigenen Spielaufbau. Sevilla lässt den Ball kurz hinten zirkulieren, um in Position zu kommen und sucht dann den Weg über scharfe Pässe ins Mittelfeld nach vorne. Die beiden Innenverteidiger bilden mit Torwart und Sechs eine Raute, die sehr breit von jeweils einem Flügelspieler flankiert wird.

Davor agieren drei sehr bewegliche Zehner, die wiederum hinter zwei Offensivkräften spielen. Es entsteht ein ungewohntes Bild im Aufbau, das noch verstärkt wird durch die aufrückenden und abkippenden Bewegungen der Zentrale, die sich stets selbst ausbalanciert.

Der FC Sevilla im Aufbau gegen RCD Espanyol am 1. Spieltag der Primera DivisionDAZN

Für mobile Nutzer: Sevilla im Spielaufbau gegen RCD Espanyol am 1. Spieltag der Primera Division

Die Abbildung eins zeigt den Aufbau gegen RCD Espanyol (6:4). Die Außenverteidiger, wenn man sie denn so nennen will, schieben weit auf und bleiben breit. Die blau gekennzeichneten Mittelfeldspieler unterteilen sich in Sechser Nzonzi und drei Zehner, die eine Linie höher agieren und ständig Nähe zu ihren Mitspielern suchen.

Die gelben Stürmer können sich bisweilen fallen lassen oder auf den Flügel ausweichen. Wichtig scheint Sampaoli, ähnlich wie Guardiola, letztlich nur die Besetzung der Zonen zu sein. Wer wann wo welche besetzt, ist den Spielern relativ frei überlassen. Momentan versucht es Sevilla oft über Zehner, die auf die Außen ausweichen, die Linie verlängern und dann mit flachen Hereingaben in den Rückraum Chancen herausspielen.

Strukturelle Probleme mit und ohne Ball

Diese Anordnung bringt Sevilla momentan einige Probleme im Spielaufbau mit ein. Die Innenverteidiger und Torhüter nutzen gelegentlich noch immer den langen, hohen Ball, der sie vor gefährlichen Ballverlusten bewahren soll oder leisten sich zu scharfe, unkontrollierbare Bälle ins Zentrum des Feldes.

Das liegt zum einen sicher an technischen Mängeln, letztlich aber auch immer wieder an schlechten Positionierungen in Ballbesitz, die in einer Isolation des Ballführenden enden. Dieser findet zentral keine Anspielstation mehr vor, der Gegner trennt die Mannschaftsteile voneinander und der Ball muss wieder durch die Abwehr laufen oder wird gar verloren.

Dann ist auch der zweite Punkte des Sampaoli-Crashkurses dahin. Der Argentinier machte sich mit Chile vor allem aufgrund eines herausragenden Pressings einen Namen - sowohl gegen den gesicherten Ball als auch im Umschaltmoment. Doch umso länger und schlechter die Abstände wie Pässe werden, umso schwieriger wird es für sein Team, bei Ballverlusten direkt Zugriff zu erhalten.

Vier Sekunden statt meterlanger Sprint

So greift das Gegenpressing nur bedingt. Falsche Entscheidungen, schlecht getimte Läufe und eben jene langen Bälle brachten Sevilla in der gesamten Vorbereitung und somit auch am ersten Spieltag gegen Espanyol schwer zu verteidigende Kontersituationen ein, die letztlich in vier Gegentoren zum Auftakt resultierten.

Doch kann sich Sevilla nach vorne arbeiten und hält dort die Struktur aufrecht, hat das Team eine sehr gute Basis, um direkt nach Ballverlust Druck auf den Ball ausüben zu können und ihn innerhalb weniger Sekunden zurückzuerobern. Durch die 2-1-5-2-Staffelung in Ballbesitz sind Zentrum wie Halbräume stark besetzt.

Kann Sevilla also mit kurzen Sprints innerhalb von hochintensiven vier bis fünf Sekunden den Ball wieder in die eigenen Reihen holen, spart es sich den langen Weg Richtung eigenes Tor. Das passiert erst, wenn sich der Gegner lösen kann und kontert. Dann fällt das Team. Die Aufgabe der Abwehr wird es, den Angriff zu verzögern und Richtung Flügel zu lenken.

Extreme Kompaktheit gegen den Ball

Rund 80 Prozent Ballbesitz verbuchte Sevilla so gegen Espanyol, erzielte sechs Tore und musste vier Gegentreffer hinnehmen. Das wenig ambitionierte Spiel Espanyols mit Ball wurde - das ist Teil drei der Änderungen von Sampaoli - mit einem hohen Angriffspressing systematisch unter Druck gesetzt und fand so eigentlich kaum statt.

Hier überzeugt Sevilla bereits durchaus mit herausrückenden Bewegungen der Zehner aus der Mitte heraus. Die Spieler halten dabei mögliche Anspielstationen im Rücken und können den Ball so auf die Außen lenken oder riskante Zuspiele, die von den nachrückenden Kameraden abgefangen werden, provozieren.

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Die hohe Kompaktheit des Teams weiß dabei zu überraschen. Sevilla verschiebt horizontal extrem weit und verlässt dabei zeitweise die andere Hälfte des Feldes komplett. Das macht das Spiel eng, senkt aber auch die Möglichkeiten des eigenen Umschaltverhaltens - Sampaoli möchte ohnehin, dass sein Team nach Ballgewinn erst einige Pässe spielt, um sich zu sortieren.

Der Faktor Ganso

Auch hier sind wieder deutliche Parallelen zu Pep Guardiola zu erkennen. Sampaoli hat viele Einfälle des Katalanen in seine eigene Spielidee implementiert, ohne dabei die Komplexität der Teams aus Barcelona oder München zu erreichen. Dafür spielen andere Faktoren wie der radikale Pressingansatz Bielsas eine Rolle und machen die neue Mischung mehr als verfolgenswert.

Inwiefern Sevilla den geplanten Angriff auf die europäische Spitze schultern kann, dürfte davon abhängen, wie das Team die Ideen des neuen Trainer aufnehmen kann. In den ersten Spielen waren noch deutliche Mängel zu erkennen, die bisher über die überdurchschnittlich hohe individuelle Qualität einzelner Spieler ausgeglichen wurden.

Dennoch fehlt bis jetzt ein herausragender Einzelkönner. Mit dem Wechsel von Ever Banega zu Inter Mailand hat Sevilla viel verloren. Neuzugang Ganso konnte bisher nicht eingreifen, sollte sein Fitnesszustand allerdings Einsätze erlauben und Sampaoli bis dahin seine Schrauben feinjustiert haben, darf sich die Europa League in dieser Saison vielleicht einen neuen Champion suchen. Und das ist durchaus positiv zu verstehen.

Der FC Sevilla im Überblick