Und dann fiel ein Schuss

In den Schlagzeilen: Ömer Toprak, Hakan Calhanoglu, Gökhan Töre und Fatih Terim (v.l.)
© spox

Eigentlich hat die Türkei vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Tschechien (20.45 Uhr im LIVE-TICKER) genug Sorgen, doch nun erschüttert ein Skandal die Nationalmannschaft. Es geht um Waffen, Drohungen und mafiöse Zustände. Mittendrin: Hakan Calhanoglu und Ömer Toprak von Bayer Leverkusen.

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Der türkische Fußballverband machte es so gründlich wie es nur ging. Ömer Toprak habe einen Riss von Typ 3A in der rechten Wade, auch Gastrocnemius genannt. Bei Hakan Calhanoglu sei es der Soleus, also die linke Wade. Bei ihm handle es sich um einen Riss von Typ 3B.

Ein bisschen viel Detail-Information für eine Pressemitteilung, die der schlichten Absicht dienen soll, über den verletzungsbedingten Ausfall von Nationalspielern zu berichten.

Die teils übertriebene Formulierung war freilich begründet. Denn schon zum Zeitpunkt der Pressemitteilung tobte es in der Medienlandschaft mit abenteuerlichen Gerüchten über Waffen, Drohungen und mafiösen Zuständen in der türkischen Nationalmannschaft.

Die peinlich genaue Dokumentation des Verbandes über die Verletzungen der beiden Leistungsträger von Bayer Leverkusen kam da eigentlich schon zu spät und ihr wurde wenig überraschend keine Beachtung geschenkt.

Türkei im Chaos

Es ist die neueste Episode eines Fußballlandes, das längst den Blick für das Wesentliche verloren hat, von einem Brandherd zum nächsten eilt und sportlich längst eine Nebenrolle im internationalen Fußball eingenommen hat. Und ausgerechnet der Mann, der die Türkei mehrmals aus diesen Lagen befreit hatte, verliert bisweilen den Überblick: Nationaltrainer Fatih Terim.

Das Unheil nahm seinen Lauf, kurz nachdem Terim im Herbst 2013 mit viel Gewalt von Galatasaray losgelöst wurde und seinen Job als Fußball-Direktor im türkischen Verband aufnahm.

Die Türkei hatte damals minimale Chancen auf die Qualifikation zur Fußball-WM in Brasilien, erhöhte diese aber schlagartig, nachdem man erst Rumänien und dann Estland auswärts besiegte. Nur noch ein Sieg gegen die Niederlande, das längst qualifiziert war, und die Türkei wäre plötzlich in den Playoffs.

Töre und seine Freunde

Doch die "Milli Takim" verlor - und sie präsentierte sich beim 0:1 gegen Louis van Gaals Elftal teils blutleer. Womöglich sorgte ein Vorfall einen Tag vor dem Spiel für den unmotivierten Auftritt der Türken vor eigenem Publikum. Es war der 15. Oktober 2013, als sich die Nationalmannschaft in einem Istanbuler Hotel seelisch auf das entscheidende Spiel vorbereitete.

Nur Gökhan Töre, damals wie heute beim türkischen Spitzenklub Besiktas unter Vertrag, hatte offenbar andere Probleme. Dem Vernehmen nach zückte er eine Schusswaffe, die er ins Hotel schmuggelte, und richtete sie auf seinen Mitspieler Hakan Calhanoglu, der damals noch beim Hamburger SV unter Vertrag stand.

Da dem Youngster Ömer Toprak zur Hilfe eilte - so berichten es türkische Medien - sei auch dieser von Töre und seinen ominösen Freunden bedroht worden.

"Es geht um eine Frau"

Der genaue Hintergrund der Tat ist unbekannt. Die türkische Sportzeitung "AMK" berichtete am Mittwoch, dass sich Calhanoglu in die damalige Freundin Töres verguckt habe und es daher zu einem Streit kam.

Der bekannte türkische Journalist Turgay Demir, der seit Jahren die Nationalmannschaft auf Tritt und Schritt verfolgt, sagte am Donnerstag im türkischen TV: "Der Vorfall ist mir bekannt. Es geht um eine Frau. Gökhan flippt aus und zückt eine Waffe. Und es kommt auch zu einem Schuss."

Eine andere Version der Geschehnisse schildert Önder Özen, bis Sommer Sportdirektor von Besiktas und federführende Figur bei der Verpflichtung Töres im Sommer 2013. "Die Geschichte beginnt nicht im Hotel, sondern in einer Bar und setzt sich dann später im Hotel fort. Eine Waffe ist im Spiel, aber sie war nicht in der Hand von Gökhan Töre", sagte Özen bei "NTV Spor".

Calhanoglu und Toprak wegen Töre nicht dabei?

Dass jener Töre aber Monate später in einem Istanbuler Nachtclub namens "Bedroom" angeschossen wurde und ins Visier der Polizei rückte, ist bekannt. Dass der gebürtige Kölner als besonders schwieriger Typ gilt, auch. In Fußballerkreisen sind die aktuellen Geschehnisse ein heißes Thema. Töre sei kein ungeschriebenes Blatt, heißt es auch aus der Bundesliga.

Nationaltrainer Terim wurde über die Vorfälle aus dem Oktober erst später informiert und reagierte. "Ich habe die Geschichte von Ömer (Toprak, Anm. d. Red.) gehört. Er hat sie mir erzählt. Ich habe daraufhin Gökhan ein Jahr lang nicht für die Nationalmannschaft nominiert. Die Medien haben mich für seine Nicht-Nominierung kritisiert, ohne nachzufragen, warum er fehlt", sagte Terim am Donnerstag in einer Pressekonferenz.

Dass der Fall nun ein Jahr später - vor allem durch ein Interview mit dem Vater Calhanoglus, der die Vorfälle bestätigte - aufgerollt wurde, bringt den jähzornigen Terim zum Glühen. Dabei war es Terim selbst, der die Lawine lostrat, indem er Töre plötzlich wieder nominierte, während zeitgleich Calhanoglu und Toprak absagten. Einen Zusammenhang vermuten nicht wenige, auch wenn neben dem türkischen Verband auch Bayer Leverkusen beide Spieler offiziell verletzt abmeldete.

"Hat Terim keine Kinder?"

"Ihr habt eine seltsame Krankheit", sagte Terim den anwesenden Journalisten am Donnerstag, "2008 habt ihr die Mütter der Spieler interviewt, jetzt ruft ihr einen Vater an?" Hüseyin Calhanoglu, Vater des Bundesliga-Stars, plauderte im Interview mit der Zeitung "Hürriyet" aus dem Nähkästchen und kritisierte auch Terim für die Nominierung Töres: "Hat er keine Kinder?", fragte Calhanoglu Senior.

"Ich habe wohl einen Fehler begangen, dass ich einen 22-jährigen Jungen geschützt und mich vor ihn gestellt habe. Dafür muss ich mich wohl entschuldigen", so Terim ironisch. Töre sei mit viel Motivation zur Nationalmannschaft gekommen, habe diese aber nun komplett verloren: "Einen Gökhan Töre gibt es hier eigentlich gar nicht mehr. Sein psychischer Zustand gefällt uns nicht."

Keine Lobby für die Deutsch-Türken

Für das Länderspiel gegen Tschechien war Töre als Startelf-Spieler vorgesehen, doch davon wird der Nationaltrainer inzwischen wohl absehen. Terims eigentliche Aufgabe ist es aber, eine Lösung zu finden, Töre, den er schon zu Galatasaray-Zeiten verpflichten wollte, Calhanoglu und Toprak künftig zusammenspielen zu lassen. "Ich habe mich hinter Gökhan gestellt und werde mich auch hinter Hakan und Ömer stellen, wenn es sein muss", sagt Terim.

Ein Unterfangen, das nicht so einfach ist, zumal beide Bundesliga-Spieler in Teilen türkischer Medien als Verräter dargestellt werden, ob ihrer ausgebliebenen Anreise in die Nationalmannschaft, während Töre als Star eines Istanbuler Top-Klubs eine nicht zu verachtende Lobby hinter sich hat.

Eine Diskrepanz, die nicht zum ersten Mal auftritt. Borussia Dortmunds Nuri Sahin fehlt auch im achten Jahr als Nationalspieler noch die vollkommene Akzeptanz. Calhanoglu selbst ist seit gut zwei Jahren eine der schillerndsten Figuren in der Bundesliga, kam in der Nationalmannschaft jedoch gerade mal auf 24 Pflichtspiel-Minuten sowie auf drei Freundschaftsspiele.

Der Leverkusener hat nun via Medien seinen Vater für dessen Äußerungen kritisiert und eine baldige Rückkehr in die Nationalmannschaft angekündigt. Immerhin eine gute Nachricht für die Türkei und Calhanoglu. Jetzt muss nur noch der Soleus ausheilen.

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