Spricht man mit Vorstandsmitglied Sam Mullock, merkt man schnell, worum es bei seinem Verein FC United of Manchester eigentlich geht: Es geht ums Prinzip. Immer und immer wieder kommt Mullock im Gespräch mit SPOX darauf zurück. Worauf er in der zwölfjährigen Vereinsgeschichte denn besonders stolz ist? "Dass wir unsere Prinzipien nie verraten haben." Was die großen Ziele des Klubs sind? "Soweit wie möglich zu kommen, ohne unsere Prinzipien verraten zu müssen." Und das oberste Prinzip lautet "fans first".
Dass es diesen Verein mit dem so hehren Prinzip "fans first" überhaupt gibt, hat damit zu tun, dass sich ein anderer Verein dem Prinzip "money first" verschrieben hat. Der Klub nämlich, den die Mitglieder des FC United of Manchester eigentlich lieben und den Sam Mullock selbst auch liebt: Manchester United.
Im Sommer 2005 war es, als diese Liebe enttäuscht wurde. Der US-Amerikaner Malcolm Glazer übernahm die Red Devils. Knapp eine Milliarde Euro zahlte er und überschrieb einen Großteil dieses Betrags direkt im Anschluss bequemerweise als Schuld auf den gerade erworbenen Verein. Auf einen Schlag von einem der reichsten zum überschuldetsten Klub der Welt werden? Malcolm macht's möglich.
"Die United-Fans werden ausgebeutet", sagt Mullock. Doch es gibt einige, die sich einfach nicht ausbeuten lassen wollen. Die nämlich, die nun alle zwei Wochen im Broadhurst Park stehen und singen: "Malcolm Glazer, wherever you may be. You've bought Old Trafford, but you'll never buy me!"
Besungener Spargel-Lieferant
Niemals wollen sie sich von Glazer kaufen lassen, dachten sich diese hartgesottenen Fans nach der feindlichen Übernahme also, und kauften sich darauf erst einmal ein Curry. In einem indischen Restaurant in Rusholme, im Süden Manchesters, trafen sich die wütenden Glazer-Gegner und beschlossen, ihren eigenen Klub zu gründen. Einen Klub mit dem Prinzip "fans first."
Einige Autoren eines United-Fanzines nahmen sich der Sache an und kümmerten sich um die Bürokratie. Sie füllten Formulare aus, unterschrieben Verträge, suchten nach einer passenden Spielstätte und auch nach einem Trainer. Und sie holten einen zwar gewissenhaften Obst- und Gemüse-Lieferanten, dafür aber gänzlich unerfahrenen Fußball-Trainer. Karl Marginson wurde zum ersten Coach des FC United of Manchester und er ist bis heute der einzige. Eine Erfolgsgeschichte.
Am Anfang war Marginson und sonst nichts. Der Trainer durfte sich seine Spieler aussuchen, 900 tauchten bei einem Casting auf. Marginson entschied sich wohl für die richtigen, denn er führte den Klub mit seinen Auserwählten in den ersten drei Jahren zu drei Aufstiegen. Von der zehnten Spielklasse in die siebte.
Gekickt wurde mangels eigener Spielstätte im Stadion des Viertligisten FC Bury, in dem der FC United mehr Fans anlockte, als der einige Klassen höher spielende Gastgeber. Und auch lautere. Am liebsten besangen und besingen die Fans ihre Abneigung gegen Glazer, am zweitliebsten den früheren Job ihres Trainers: "He sells asparagus, and the odd avocado."
Mit den Spielern am Tresen
Es herrschte eine märchenhafte Aufbruchsstimmung, es waren die Zeiten des großen Miteinanders beim FC United of Manchester. "Damals sind die Spieler nach jeder Partie ins Pub gekommen und haben dort mit uns Fans ein Pint getrunken", erinnert sich Mullock, der einst bei vielen Veranstaltungen als ehrenamtlicher Mitarbeiter aushalf und seit 2015 im Vorstand sitzt.
In dieser Zeit, als die Spieler regelmäßig das Pub beehrten, feierte der nicht mehr ganz austrainierte Trainer Marginson ein vielumjubeltes Comeback. Nicht als Obst-Lieferant, sondern als Fußballer. 2007 wechselte er sich beim letzten Saisonspiel gegen Formby selbst ein. Der Jubel der Fans war ähnlich groß wie der Überraschungseffekt für das gegnerische Team.
Mit jedem Aufstieg professionalisierte sich der Verein aber, "und heute passiert es seltener, dass die Spieler ins Pub kommen, weil sie die Sache ernster nehmen". Marginson beließ es bei einem Comeback und konzentriert sich mittlerweile auch wieder ganz aufs trainieren lassen. Gewissenhaft und fleißig arbeitet die Vereinsführung, um dem sportlichen Aufstieg administrativ hinterher zu kommen. Der Klub stellt sich von Jahr zu Jahr breiter auf: Die Spieler sind mittlerweile als Halbprofis engagiert, fünf festangestellte Mitarbeiter führen den Verein und aus "Trainer" Marginson wurde "Head of Football" Marginson.
"Heute umfasst sein Tätigkeitsbereich nicht mehr nur die erste Mannschaft", erklärt Mullock, "er ist auch im Management tätig und kümmert sich um die Akademie." Die Akademie, überhaupt. Sie trägt gerade erste Früchte. Früchte, die Marginson, der sich mit Früchten ja so gut auskennt, Stück für Stück in die erste Mannschaft integriert. "Darauf sind wir sehr, sehr stolz", sagt Mullock.
Neue Identifikationsfiguren wachsen gerade heran und sie werden vielleicht einmal die Nachfolger der aktuellen. Die derzeit identitätsstiftendste Identifikationsfigur ist Jerome Wright. Seit elf Jahren spielt er schon für den FC United und bestritt fast 400 Spiele. Unter anderem auch das Spiel der Spiele, das am 29. Mai 2015.
Das Ende des Nomadentums
Genau zehn Jahre war der Verein damals alt. Zum Jubiläum weihte er sein erstes eigenes Stadion ein. Während den Jahren des Nomadentums wurde Geld gesammelt für eine eigene Spielstätte, fast drei Millionen Euro trugen die Fans zusammen und durften nun von der 2.000 Zuschauer fassenden Stehplatz-Tribüne St Mary's Road End ihr Team gegen die zweite Mannschaft von Benfica Lissabon anfeuern. 0:1 hat der FC United verloren, aber was ist schon ein verlorenes Spiel gegen eine gewonnene Heimat?
Grenzenlos war die Euphorie um das eigene Stadion zu Beginn, aber bald wurden die Heimspiele im Broadhurst Park zur Normalität. "Die Atmosphäre ist schon gut, aber nicht mehr so gut wie sie mal war", sagt Mullock, "auch nicht so gut wie vor dem Umzug." Knapp 2.500 Zuschauer kommen im Schnitt zu den Partien in der sechsten Liga, in die sich der Klub mittlerweile vorgekämpft hat.
Hunderte Fans natürlich, die United im Herzen tragen, sich aber nicht ausbeuten lassen wollen und den Klub zu dem machten, der er jetzt ist. Viele aber auch, die United nicht im Herzen tragen, sondern angelockt werden von der Geschichte, die diese Fans geschrieben haben. "Bei uns sind immer viele Groundhopper im Stadion, die das besondere Flair erleben wollen", sagt Mullock. Speziell aus Deutschland kämen viele, aber auch aus Norwegen oder den Niederlanden.
Der FC United ist ein Verein, der einen neugierig macht und in seinen Bann zieht, auch außerhalb von Europa. Mullock erzählt von Fan-Klubs in China und den USA und deren Anhängern, die die Spiele im Radio oder Internet verfolgen. "Wir sind offen für alle", sagt Mullock. Somit sind sie genau das, was Manchester United nicht mehr ist.
Trotz all der Enttäuschungen, die sein eigentlicher Lieblingsverein Mullock bescherte, unterstützt er ihn immer noch. "Aber nicht finanziell", wie er eilig hinterherschiebt: "Ich gebe denen kein Geld mehr für Tickets oder Merchandise-Produkte."
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