"Der Schleier über Asiens einzigem WM-Teilnehmer ist gelüftet - und von dieser Mannschaft droht in Gruppe vier keinem Gegner Gefahr." So beschrieb der WM-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" 1966 seine Eindrücke von der nordkoreanischen Nationalmannschaft.
Das war nach dem ersten Gruppenspiel, das die Asiaten mit 0:3 gegen die Sowjetunion verloren. Was danach folgte, war die vielleicht größte Sensation der WM-Geschichte. Angefeuert von ihrem Staatschef leisteten die Nordkoreaner schier Unglaubliches.
Denn ein direktes Ausscheiden kam für den damaligen Diktator Kim Il-Sung nicht in Frage. "Der große Führer hatte uns befohlen, ein oder zwei Spiele zu gewinnen. Wir waren fest entschlossen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen", erklärte Pak Doo-Ik die folgenden Ergebnisse.
Gegen Chile glich Pak Seung-Zin in der 88. Minute das frühe 0:1 nach einem Elfmeter aus, im letzten Spiel konnte sich Nordkorea mit einem Sieg sensationell für das Viertelfinale qualifizieren. Chile war da praktisch schon ausgeschieden, die Sowjetunion nach zwei Siegen bereits durch.
Überhebliches Italien verzockt sich
Es kam also zu einem Finale gegen die Squadra Azzurra. Zu diesem Zeitpunkt lachte ganz Italien noch über die "Mannschaft voller Clowns", die niemand auf der Rechnung hatte. Die Fußball-Fans in England sahen die Verhältnisse offenbar ähnlich, nur 18.000 Zuschauer kamen ins Stadion von Middlesbrough.
Und die sahen eine über alle Maßen überhebliche italienische Mannschaft, die in der eigenen Hälfte den Ball hochhielt, sich Kabinettstückchen am eigenen Strafraum leistete und das Spiel nach vorne komplett vernachlässigte.
Das rächte sich in der 41. Minute, als Pak Doo-Ik einen leichten Ballverlust seines Gegners für einen Sololauf nutzte. In dieser Situation war die technische Unzulänglichkeit der Nordkoreaner ihr größter Trumpf: Denn als Pak beim Schussversuch in den Boden trat, rutschte Verteidiger Aristide Guarneri ins Leere und gab seinem Gegner so freie Bahn für einen zweiten Versuch.
Diesmal machte Pak alles richtig und traf zur 1:0-Führung. Die ganze Fußball-Welt stand in diesem Augenblick unter Schock.
Faule Eier und Tomaten für die Squadra Azzurra
In der zweiten Hälfte versuchten die Blauen noch, das Ergebnis zu ihren Gunsten zu drehen, aber die Bemühungen nahmen mit ablaufender Uhr immer groteskere Formen an.
Nordkorea verteidigte, als würde es um das Leben jedes Einzelnen gehen und stürzte Italien somit in eine Blamage, deren Narben noch heute nicht ganz verheilt sind.
Damals wurde die Squadra in der Heimat mit Tomaten und faulen Eiern empfangen. Abwehrmann Giacinto Facchetti flüchtete sich nach dem Debakel in Ausreden: "Ohne den Ausfall von Giacomo Bulgarelli hätten wir nicht verloren." In der Tat musste der Stürmer schon nach einer halben Stunde verletzt raus. Damals durfte noch nicht gewechselt werden.
Aber bitte schön: Die Italiener hatten sich die Pleite selbst zuzuschreiben. Wegen ihrer Arroganz - und weil sie überhaupt keine Ahnung hatten, was da auf sie zukam.
Schlaflose Nächte im Kloster
Die Nordkoreaner erwiesen sich trotz aller Unkenrufe als perfekt vorbereitet und legten eine Spielweise an den Tag, die seither Markenzeichen aller ostasiatischen Teams ist: immer schnell, immer aggressiv und mit grenzenloser Leidenschaft.
Die englischen Fans lernten dieses Teamangesichts seiner unkonventionellen Art lieben und feuerten es auch in der Runde der letzten Acht bedingungslos an. Und das, obwohl zu dieser Zeit auf der Insel der Rassismus noch offen grassierte.
Vor dem Viertelfinale taten viele Spieler kein Auge zu. Aber nicht aus Nervosität, sondern weil sie nach einem Quartierswechsel in einem Jesuitenkloster untergebracht waren und sich vor der Figur eines misshandelten Mannes fürchteten. Es war das erste Mal, das die Nordkoreaner den gekreuzigten Jesus sahen.
In Liverpool trafen sie übermüdet auf Portugal und gingen trotzdem nach nur 24 Minuten mit 3:0 in Führung.
Galaauftritt von Eusebio
Insbesondere das zweite Tor war sinnbildlich für die Art der Asiaten, Fußball zu spielen: Nach einem Pfostenschuss des iberischen Superstars Eusebio schalteten sie blitzschnell um, stürmten auf das gegnerische Tor zu und nutzten die Überzahlsituation zum Treffer, ehe die Portugiesen überhaupt wussten, wie ihnen geschah.
Der Goodison Park in Liverpool stand Kopf, und der Underdog hätte die Partie wohl auch gewonnen, hätte Eusebio nicht das Spiel seines Lebens gemacht.
Mit schierer Willenskraft und außerordentlicher Klasse verkürzte er per Doppelpack noch vor der Pause auf 2:3, ehe er in der zweiten Hälfte erneut zweifach traf und die Partie drehte. Sein Eckstoß war die Vorlage zum entscheidenden 5:3.
Italien-Schreck Pak schlägt wieder zu
Das nordkoreanische Märchen endete am 23. Juli 1966, aber die Party ging gerade erst los. In Pjöngjang wurden die Nationalspieler wie Helden gefeiert, in der ganzen Welt für ihre erfrischende Art bewundert.
Insbesondere die Beziehung zum damaligen Gastgeberland England ist seitdem eine ganz besondere. 2002 drehte die "BBC" eine Dokumentation über das nordkoreanische Team von '66 mit dem Titel "The Game of their Lives".
Zu diesem Zweck reisten die sieben noch lebenden Akteure im Oktober auf die Insel und durchlebten durch Interviews und Fernsehauftritte die schönste Zeit ihrer Karriere aufs Neue. Mit dabei war auch Italien-Schreck Pak Doo-Ik.
Der fuhr auf seiner Reise übrigens auch nach Wales, wo prompt am selben Tag die Waliser in der EM-Qualifikation einen 2:1-Sieg über Italien einfuhren.
Nordkorea auch 2010 die große Unbekannte
2010 ist Nordkorea zum zweiten Mal bei der WM dabei. Nachdem das Team für die Turniere 1998 und 2002 nicht einmal bei der Qualifkation mitmachte, ist dies erneut ein kleines Wunder.
Ob der derzeitige Führer Kim Jong-Il eine ähnliche Forderung an seine Nationalmannschaft gestellt hat oder noch stellen wird wie 44 Jahre zuvor sein Vater, ist nicht bekannt. Genauso wenig, ob Nordkorea auch diesmal für eine Sensation sorgen kann.
Denn die Europa-Reise im vergangenen Sommer war die erste offizielle einer nordkoreanischen Nationalmannschaft seit 1966. Auch vor Südafrika weiß die breite Öffentlichkeit nicht, was sie von diesem Team zu erwarten hat.
Gruppe G: Brasilien, Elfenbeinküste und Portugal
Die Statistik aus der Asien-Qualifikation gibt lediglich Aufschluss darüber, dass die Verteidigung solide ist, die Angreifer um Kapitän Hong Yong-Jo aber Probleme haben, das Tor zu treffen.
"Wir spielen einen Fußball, der von Schnelligkeit und ausgereifter Technik geprägt ist sowie die Anforderungen an eine moderne Spielausrichtung erfüllt, die ein ausgeprägtes körperliches Durchsetzungsvermögen beinhaltet", sagte Trainer Kim Jong-Hun zwar.
Ob das aber reichen wird, um erneut die Gruppenphase zu überstehen, darf bezweifelt werden. Mit den Gegnern Brasilien, Elfenbeinküste und Portugal haben die Asiaten eine Herkules-Aufgabe vor sich.
Aber dass die große Unbekannte des Weltfußballs zu Außergewöhnlichem fähig ist, davon können nicht zuletzt die Italiener ein Lied singen.