Die Top-Nationen sind längst enteilt, den Three Lions fehlen seit Jahren elementare Eckpunkte des modernen Fußballs. Es gibt die zarte Hoffnung auf Besserung - aber wohl erst nach der WM. Trotzdem spricht Trainer Roy Hodgson ganz offensiv vom Titel.
Man muss es nicht mit Alan Hudson halten, um dem englischen Fußball - oder besser: seiner Nationalmannschaft - ein grundsätzliches Problem zu attestieren.
Jener Hudson, der als Jungspund Anfang der 1970er mit dem FC Chelsea den FA Cup und den Europapokal der Pokalsieger gewann, sieht den Ursprung allen Übels im WM-Triumph von 1966, der Sternstunde des englischen Fußballs überhaupt.
"Manchmal ist ein Titel das Schlimmste überhaupt", sagt Hudson. "Der Titel von 1966 ist so ein Beispiel." Die These des heute 63-Jährigen: Weltmeistertrainer Alf Ramsey habe zugunsten seines Systems auf einige der größten Talente des Landes verzichtet und damit der Entwicklung des Fußballs in England nachhaltig Schaden zugefügt.
Spieler wie Roboter
Man sei eine Nation, in der feine Techniker und Kreative suspekt seien und "Spieler, die nur wie die Roboter herumrennen" die große internationale Karriere machen, befindet Hudson. Und so spielt England 2014 unter Roy Hodgson den gleichen, eindimensionalen Fußball wie eigentlich immer schon oder wie zumindest seit 50 Jahren.
"Es geht nur darum, den Ball nach vorne auf die Stürmer zu hauen und dann hinterher zu rennen", sagt Hudgson. "Aber so sollte Fußball nicht gespielt werden. Brasilien spielt nicht so und auch nicht Spanien, Italien oder Deutschland."
Bei Hudson schwingt sicher auch viel Verbitterung mit. Er war sicher einer der talentiertesten Mittelfeldspieler seiner Zeit, technisch versiert mit beiden Füßen, passsicher und mit gutem Auge ausgestattet. Doch auf sein Debüt bei den Three Lions musste er warten, bis der legendäre Sir Alf Ramsey 1974 abtrat - und letztlich brachte er es nur auf zwei Länderspiele.
Man muss nicht einer Meinung mit Hudson sein über die Hintergründe oder Ursprünge der Krise der englischen Nationalmannschaft, aber man gelangt zu den gleichen Erkenntnissen.
Wo sind die Strategien?
Doch eigentlich geht das Dilemma der Three Lions noch viel tiefer: Es fehlt eine eigene Identität und eine gemeinsame Basis und vor allem eine wirkungsvolle Strategie, dem Mangel an Spielern von internationalem Klasseformat entgegenzutreten.
Dass die Schlüsselpositionen in den Top-Klubs der Premier League von ausländischen Stars besetzt werden, ist keine neue Entwicklung und allgemein bekannt. Doch die Tatsache, dass sich dieser Trend noch verstärkt, legt die Missstände und Versäumnisse im Nachwuchsbereich schonungslos offen.
Multi-Kulti ist in der höchsten englischen Spielklasse en vogue und das mehr denn je. Geht man die Tabelle der im Mai zu Ende gegangenen Meisterschaftsrunde durch, so findet man auf den ersten vier Plätzen, die zur Teilnahme an der Champions League berechtigen, Mannschaften vor, die in ihrem fußballerischen Ansatz alles sind, nur eben nicht typisch englisch.
Kaum Einfluss englischer Spieler bei den Top 4
Der Einfluss der englischen Nationalspieler beim vom Chilenen Manuel Pellegrini trainierten Meister Manchester City ist marginal, wenn man von Torhüter Joe Hart absieht - und der ist nicht mal unumstritten. James Milners 31 Saisoneinsätze lesen sich ganz gut, zwölf Berufungen in die Startelf, knapp 44 Minuten durchschnittliche Einsatzzeit und ein Tor schon weniger.
Kaum anders sieht es beim FC Chelsea aus. Jose Mourinho hält in der Abwehr zwar große Stücke auf Gary Cahill, doch Frank Lampard ist im Spätherbst seiner Karriere längst keine prägende Figur im System des Portugiesen mehr.
Lichtjahre entfernt von britisch geprägtem Fußball ist freilich auch der FC Arsenal. Immerhin ist Jack Wilshere, sofern er gerade nicht wieder verletzt pausieren muss, eine wichtige Konstante in Arsene Wengers deutsch-spanisch-französischem Kombinationswirrwarr.
Am englischsten kommt noch der Vizemeister daher. Der FC Liverpool spielt unter dem Nordiren Brendan Rodgers ein spektakuläres und risikoreiches 4-3-3, in dem Steven Gerrard als eine Art Quarterback vor der Abwehr seinen zweiten Frühling erlebt.
Hodgson: Trainer oder nur Avatar?
Mit Jordan Henderson, Raheem Sterling und Daniel Sturridge schafften es gleich noch drei Schlüsselspieler der Reds ins Aufgebot für die WM. Doch wohin mit ihnen im vergleichsweise altbackenen System von Trainer-Oldie Hodgson? Der erscheint mehr als eine Art Avatar denn als Nationaltrainer, steht sinnbildlich für den Stillstand der englischen Nationalmannschaft.
Das ist vielleicht nicht alleine Hodgsons Schuld, schließlich hat es die FA davor mit Fabio Capello erneut mit einem ausländischen Trainer versucht und war gescheitert. Der 66-Jährige sieht keinen Grund, warum England in Brasilien nicht Weltmeister werden könne. Das ließ Hodgson vor ein paar Tagen die englischen Fans wissen. Die gewagte These sollte wohl Zuversicht vermitteln, als Beispiel führte Hodgson Dänemarks EM-Triumph von 1992 an.
Der Verweis auf ein Ereignis aus einer anderen Zeit des Fußballs zeigte aber vor allen Dingen, dass sich auch der Nationaltrainer sehr am Zweckoptimismus labt und die Ausnahme anführt, um die Regel gekonnt zu umgehen. Und die sieht so aus, dass England in Brasilien allenfalls Außenseiterchancen besitzt. Die meisten gehen in der Gruppe mit Italien, Uruguay und Costa Rica von einem Ausscheiden bereits nach drei Partien aus.
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Kein grundsätzlicher Rahmen
Es gibt keine Basis, die als grundsätzlicher Rahmen firmieren könnte. Die englische Spielidee ist schwer zu definieren, die Mannschaft gibt kein schlüssiges Gesamtbild ab, das auf Top-Niveau mit den Stärksten der Welt mithalten könnte.
Andere Nationen wie Deutschland oder Spanien kennen solche Probleme nicht. Bayern und Dortmunder, Spieler aus Barcelona oder Madrid lassen sich nahezu beliebig kombinieren, sie sprechen fußballerisch die gleiche Sprache - ganz davon zu schweigen, dass sie in den meisten Fällen mehr Qualität und Talent mitbringen als ihre englischen Pendants.
Italien hatte lange Jahre ein ähnlich gelagertes Problem wie die Engländer. Stars aus dem Rest der Welt drückten den Top-Klubs ihren Stempel auf und standen im Mittelpunkt des Interesses.
Zu keinem Zeitpunkt jedoch ließen es die Italiener geschehen, dass das Italienische fast vollständig aus ihrem Fußball gedrängt wurde. Anders als in der Premier League ist die italienische Fußballschule omnipräsent. Der Einfluss einheimischer Trainer ist ungleich größer als in England und der Nachwuchs besser ausgebildet.
Bloemfontein hat einiges verändert
Italienischer, spanischer, deutscher oder niederländischer Fußball - sie alle haben eine Identität, der englische hat seine offenbar irgendwann verloren. Als die Three Lions vor vier Jahren in Bloemfontein an der Jugend und Schnelligkeit der deutschen Nationalmannschaft zerschellten, war das Gejammer groß und die Fragen bohrend.
Warum um alles in der Welt haben es die Deutschen innerhalb kurzer Zeit zurück in die Weltspitze geschafft und die Engländer nicht? Wo kommen plötzlich all diese jungen, perfekt ausgebildeten Spieler her, während England fast ausschließlich mit Spielern um die 30 im Achtelfinale rausflog?
Relativ schnell wurde die Sollbruchstelle zwischen Deutschem Fußball-Bund und der Deutschen Fußball-Liga offenkundig und dass die beiden Institutionen in Deutschland anders miteinander kooperieren als es die Football Association mit der Premier League tut.
Interessenkonflikt als zentrales Problem
22 der 23 deutschen WM-Fahrer von 2010 entstammten aus den Fußballakademien von Bundesliga- (18) oder Zweitligaklubs (vier). Nur Jörg Butt nicht, der dritte Torhüter.
Dass die deutschen Profiligen mittels der 50+1-Regelung ihre eingetragenen Vereine schützen, dass der Ausländeranteil in den letzten zehn Jahren auf unter 40 Prozent gesunken ist und die Klubs stattdessen begriffen haben, dass in der Ausbildung eigener Talente nicht nur kostbares Gut für den Seniorenbereich generiert wird, sondern auch die Möglichkeit, durch den Weiterverkauf dieser Spieler neu zu investieren - das alles hat der deutschen Nationalmannschaft zu ihrem Aufschwung verholfen.
Ziemlich konträr zu dem bleibt dagegen die Premier League bei ihrer Linie, zunächst das eigene Produkt im Auge zu behalten und erst dann die Interessen unter anderem der FA zu unterstützen. Die Engländer haben sich mal an einer "Professional Game Youth Development Group" versucht, um die Ausbildungsrichtlinien zu vereinheitlichen und gebündelt weiterzuentwickeln. Nach nur einem Jahr wurde die Idee wieder begraben.
Zeichen der Besserung
Analog zur schleppenden Spielerausbildung stockt auch die Aus- und Fortbildung englischer Trainer. Die großen Klubs werden seit Jahrzehnten fast ausnahmslos von ausländischen Managern zu den Erfolgen geführt. Dieser gerne unterschätzte Fakt ist ein wesentlicher Mosaikstein der fehlenden englischen Kultur.
Immerhin laufen seit zwei Jahren die Anstrengungen gezielt in die richtige Richtung. Die alte Reserverunde der Zweitvertretungen der Klubs wurde abgeschafft, in der "Barclays U21 League" messen sich seitdem die besten Talente des Landes unter Profibedingungen.
Die finanziellen Anstrengungen der Klubs haben sich nochmals intensiviert und die FA hat im Herbst 2012 endlich den St. George's Park eröffnet - einen 130 Hektar großen Anlaufpunkt in Burton upon Trent für alle Teams des englischen Verbandes, analog zu Frankreichs Trainingsstätte in Clairefontaine.
Die U 17 wurde vor wenigen Wochen Europameister, es war bereits der zweite Titel dieses Jahrgangs in den letzten vier Jahren. Der aktuelle WM-Kader weist insgesamt immerhin zehn Spieler auf, die jünger als 25 Jahre sind. Erste Ansätze für eine erfolgreichere Zukunft sind geschaffen.
Die englische Mentalität muss sich aber auch lossagen vom kultivierten Image des tragischen Verlierers. So lange ein 0:1 zu Hause gegen Deutschland schon als Erfolg, weil nicht zu hoch ausgefallene Niederlage bewertet wird, bleiben die Probleme systemimmanent. Fast 50 Jahre nach dem einzigen großen Triumph wäre die Zeit reif, etwas daran zu ändern.
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