Fällt Robben aus, ist Oranje Mittelmaß

Thomas GaberAndreas LehnerBenjamin Wahlen
12. Juni 201414:11
Dreh- und Angelpunkt der holländischen Offensive: Arjen Robben und Robin van Persiegetty
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Lähmt Brasilien der Druck? Braucht Spanien die falsche Neun? Sind die Niederlande von den Offensivkünstlern abhängig? Zu diesen und anderen Fragen geben die SPOX-Redakteure Thomas Gaber, Andreas Lehner, Benjamin Wahlen und mySPOX-User riquelminho im Panel ihre Meinung ab.

Brasilien ist Top-Favorit. Wie wird das Team mit der Erwartungshaltung umgehen?

Thomas Gaber (SPOX): Viel wird vom ersten Spiel abhängen. Kroatien ist ein unangenehmer Gegner, der das körperbetonte Spiel mag. Gelingt Brasilien ein Sieg, egal ob überzeugend oder glücklich, kann das befreiend wirken. Das Team ist gefestigt und hat mit David Luiz, Dani Alves oder Marcelo Typen, die mit Druck vor allem auch in großen Spielen gut umgehen können. Ich glaube aber, dass die Erwartungshaltung negative Auswirkungen auf die Leistung von Neymar haben wird.

Andreas Lehner (SPOX): Druck ist da, keine Frage. Aber der wird nur in der Anfangsphase des ersten Spiels zu spüren sein. Wenn die Brasilianer gut reinkommen ins Turnier, wird die Euphorie den Druck überlagern. Viel mehr Sorgen würde ich mir aus Sicht der Brasilianer wegen der schweren Auslosung machen. Da gibt's bis zum Finale eigentlich kein leichtes Spiel.

Benjamin Wahlen (GO!Brasil-Team): Proteste hin oder her - der Großteil des Landes freut sich wie irre auf die WM und erwartet nichts anderes als den Titel. Mit einem klaren Sieg im Eröffnungsspiel wird die Selecao diese Euphorie-Welle noch verstärken. Da Scolari seine Jungs aber gut im Griff und zudem eine geballte Ladung Erfahrung im Kader hat, wird die Mannschaft auf dem Boden bleiben und sich nicht zu Hallodri-Fußball hinreißen lassen.

riquelminho (mySPOX-User): Mein Top-Favorit sind sie nicht, aber ähnlich wie im Falle Deutschlands 2006 wird es darauf ankommen, wie die Mannschaft in das Turnier kommt. Beim Confed-Cup ist man nach atemberaubenden Druckphasen häufig schnell in Führung gegangen. Der Spielverlauf kam den eigenen Stärken somit entgegen, die eher im dynamischen Überwinden als im methodischen Zurechtlegen des Gegners liegen. Über besonders viel Turnier-Erfahrung verfügen die Spieler nicht, dafür über einen cleveren Trainer, über enormes Talent auf einigen Positionen und vielleicht auch über die nötige Portion brasilianische Gelassenheit. Mit Kroatien wartet gleich zu Beginn ein raffinierter und stark besetzter Gegner als idealer Indikator für spielerische Reife und Druckresistenz der Selecao auf.

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Falsche Neun oder echter Stürmer - wie soll Spanien auflaufen?

Thomas Gaber (SPOX): Das ist angesichts der Fülle an Spielern im spanischen Kader unerheblich. Die Furia Roja funktioniert in beiden Systemen und hat das bei den letzten Turnieren auch gezeigt. Die Mannschaft ist kaum ausrechenbar, Del Bosque ändert auch gerne während eines Spiels das System. Wenn ich wählen müsste, würde ich mich für ein Spanien mit echter Neun entscheiden. Torres blüht im Nationaltrikot regelmäßig auf und über die Qualitäten von Diego Costa gibt es keine Zweifel.

Andreas Lehner (SPOX): Spaniens große Stärke in den vergangenen Turnieren war auch, dass es extrem flexibel war. Die Seleccion kann ohne Stürmer spielen, aber auch mit einem oder sogar zwei Angreifern. Spanien braucht weder die falsche Neun noch einen echten Stürmer, um den WM-Titel zu verteidigen. Im Kader stehen genug Spieler, die Qualitäten im Abschluss haben und nicht viele Chancen brauchen - das ist entscheidend. Es geht um den Einsatz der richtigen Mittel zum richtigen Zeitpunkt. Und Del Bosque hat bewiesen, dass er seine Optionen bestens einzusetzen weiß. SPOX

Benjamin Wahlen (GO!Brasil-Team): Mir gefällt Spanien wesentlich besser, wenn sie mit einem echten Stürmer auflaufen. Eine Mannschaft muss einfach die Möglichkeit haben, auch mal über die Außen zu gehen und zu flanken, statt sich immer nur durch die Mitte zu kombinieren. Mit Villa, der sein letztes Turnier für Spanien spielt und wie bei Atletico bis zum Umfallen ackern wird, und Costa verfügt die Furia Roja auch über die richtigen Spielertypen für dieses System. Plus: Gegen die bissige Verteidigung von Chile und die taktisch sowie technisch hervorragend geschulte Defensive der Niederlande wird Spanien die Durchschlagskraft in vorderster Front brauchen.

riquelminho (mySPOX-User): Ich gehe davon aus, dass Spanien das Sturmzentrum überwiegend mit einer "klassischen" Neun besetzen wird. Das ist auch konsequent bei dem verfügbaren Spielermaterial.

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Ist die Niederlande zu sehr von Sneijder, Robben und van Persie abhängig?

Thomas Gaber (SPOX): Van Gaals Problem ist, dass er Kevin Strootman nicht zur Verfügung hat. Strootman war der entscheidende Mann für die richtige Balance im holländischen Spiel. Der Coach hat infolgedessen sogar das System geändert. Er lässt Oranje im 5-3-2 defensiver spielen, weil er um die Anfälligkeit seiner unerfahrenen Abwehr weiß. Daher kommt der stark besetzten Offensive noch mehr Bedeutung zu, was aber angesichts der starken Saison von Robben und Sneijder nicht so tragisch ist. Und auch van Persie konnte in Manchester trotz seiner Verletzungsprobleme überzeugen.

Andreas Lehner (SPOX): Holland hat schon seit Jahren keine internationalen Klasse-Verteidiger mehr. Zur Erinnerung: Im WM-Finale 2010 verteidigten Heitinga und Mathijsen innen. Deshalb liegt der Fokus auf der prominent besetzten Offensive. Aber es gibt Schlimmeres als einen Sturm mit Robben und van Persie, Sneijder dahinter, dazu noch einen wie Huntelaar auf der Bank. Allerdings: Die zweite Reihe ist nicht so gut besetzt wie etwa bei den Deutschen. Falls Robben und/oder van Persie ausfallen, ist Oranje Mittelmaß. SPOX

Benjamin Wahlen (GO!Brasil-Team): Ja. Auch wenn es nicht viele Trainer gibt, die ein besseres Gespür für den Einsatz und Umgang mit jungen Spielern haben wie Louis van Gaal, sind vor allem Robben und van Persie in vorderster Front nicht zu ersetzen. Hinter van Persie, immerhin bester Torschütze der europäischen WM-Quali, kommt mir mit Huntelaar, Kuyt, Lens und Depay einfach zu wenig. Gleiches gilt für die beiden anderen. Die Niederlande ist auf Sneijders Spielkontrolle und Robbens Einzelaktionen angewiesen. Finden beide nicht statt, ist das Vorrundenaus wahrscheinlich.

riquelminho (mySPOX-User): Wer Spieler dieser Qualität in seinen Reihen weiß, der nimmt eine sich daraus ergebene Abhängigkeit wohl gerne in Kauf. Wie eigentlich immer verfügen die Niederländer auch über Talent neben den großen Stars. Mit großem Interesse werde ich verfolgen, ob van Gaal daraus eine homogen aufspielende Truppe formen kann, die sich in dieser schweren Gruppe auch durchsetzt. Er müsste eigentlich der richtige Coach dafür sein, aber die fehlende Reife der Defensivabteilung könnte schon ein erheblicher Faktor sein.

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Reicht Argentiniens Offensivkraft für den lang ersehnten großen Wurf?

Thomas Gaber (SPOX): Ich bin schon lange ein Fan der Albiceleste, was nicht nur daran liegt, dass ich familiäre Verbindungen nach Argentinien habe. Maradona, Valdano, Batistuta, Crespo und natürlich Messi - der zweimalige Weltmeister hatte immer bewundernswerte Spieler. Trotz der nominell starken Offensive und der Nähe zum Heimatland glaube ich nicht so recht an den dritten Titel. Seit dem Finaleinzug 1990 hat es für Argentinien bei fünf darauffolgenden Weltmeisterschaften nie für ein Halbfinale gereicht. In Brasilien kommt Nummer sechs dazu.

Andreas Lehner (SPOX): Bei den letzten vier WM-Turnieren hatte ich Argentinien immer auf der Rechnung, dieses Mal nicht. Dafür ist Messi zu weit von seiner Bestform entfernt und Agüero war immer wieder verletzt. Klar, die Namen klingen traumhaft, aber irgendwie finden die Stars in der Albiceleste auf dem Platz nicht konstant genug zusammen. SPOX

Benjamin Wahlen (GO!Brasil-Team): Messi, Agüero, Lavezzi, Higuain, dazu noch Palacio und di Maria - Wahnsinn! Für mich die mit Abstand beste Offensive der Weltmeisterschaft. Schafft Sabella es, aus seinen Individualisten eine funktionierende Mannschaft zu formen, wird dieser Angriff fast unmöglich zu stoppen sein. Warum es trotzdem nicht zum Titel reicht? Die Diskrepanz zwischen furioser Offensive und mittelmäßiger Hintermannschaft ist einfach zu groß. Die Defensiv-Fehler, die vor allem gegen die Topteams passieren werden, können mit purer Feuerkraft nicht ausgeglichen werden. Spätestens im Halbfinale ist Schluss.

riquelminho (mySPOX-User): Bei den vergangenen Turnieren waren die Probleme Argentiniens vor allem in der Abstimmung der Mannschaftsteile untereinander und schlechter Balance zwischen Defensivorganisation und Offensivindividualität auszumachen. Auch generelle qualitative Mängel jenseits des Angriffs spielten eine Rolle. Reichte die pure, individuelle Offensivkraft, um derartige Probleme zu überdecken? Nein. Hat Sabella nun die richtige Mischung gefunden und dem Team eine eigene, zusammenhängende und funktionierende Spielidentität verliehen? Vielleicht. Es sieht besser aus als früher, aber ich habe angesichts der Konkurrenz große Zweifel, ob es für den Titel reichen wird.

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Kann der 35-jährige Andrea Pirlo Italien erneut durch das Turnier führen?

Thomas Gaber (SPOX): Es spricht nicht unbedingt für den Kader der Squadra Azzurra, wenn ein 35-Jähriger die Kohlen aus dem Feuer holen muss. Pirlo ist nach wie vor genial, nimmt sich aber immer öfter Auszeiten. Italien muss als Mannschaft funktionieren und über das Kollektiv kommen, so wie bei der EM 2012. Wenn Italien die harte Gruppe mit Uruguay und England übersteht, traue ich Prandellis Männern zu, ganz weit zu kommen. Dafür braucht Italien dann auch die genialen Momente von Andrea Pirlo.

Andreas Lehner (SPOX): Bei Pirlo habe ich keine Bedenken, sein Spiel ist nicht so kraftaufwendig, dass er enorm unter den Bedingungen in Brasilien leiden würde. Die Schwerarbeit nehmen ihm De Rossi, Thiago Motta oder Marchisio ab. Mehr Sorgen würde ich mir an italienischer Stelle um die Besetzung der Innenverteidigung machen. Sollten die Gegner Druck auf die letzte Linie der Italiener machen können, ist vor allem Barzagli ein Schwachpunkt. Dann hilft auch Pirlos Genialität nicht mehr.

Benjamin Wahlen (GO!Brasil-Team): Lucien Favre sagte mal über Juan Arango: "Er ist wie ein guter Rotwein. Er wird immer besser, je älter er wird." Gleiches gilt für Andrea Pirlo, der Juventus zum dritten Scudetto in Folge führte und Dreh- und Angelpunkt der italienischen Nationalmannschaft ist. Seine Standards können Spiele entscheiden, seine Übersicht, Technik und Antizipation sind einzigartig. Italiens Abschneiden bei der WM ist eng an Pirlo geknüpft - trotz oder vielleicht aufgrund seiner 35 Jahre.

riquelminho (mySPOX-User): Ja, er kann und er muss. Er war nie die Lunge dieses Teams, sondern ist und bleibt immer das Gehirn und der Mann für die speziellen Momente. Ich bin gespannt, wie - und wie gut - die Gegner in diesem Turnier seine Aktionen verteidigen werden. Ich hoffe jedenfalls, dass Italien weit kommt und wir viele Spiele dieses Genies sehen werden.

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