WM

Eine Zäsur, keine Beerdigung

Von Daniel Reimann
Aus in der Vorrunde: Spaniens Spieler trotten vom Platz
© getty

Auf desolate Weise scheidet Titelverteidiger Spanien nach einem 0:2 gegen Chile in der Vorrunde aus. Die Rede ist vom Barcelona-Syndrom, doch die Gründe für das Scheitern sind vielschichtiger. Ein Abgesang auf das Tiki-Taka und seine Protagonisten kommt zu früh.

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Alles begann mit Luis Aragones. Einem Trainer, der in 30 Jahren nur eine einzige Meisterschaft gewann. Dessen Verhältnis zu Spielern gleichsam wie zu Medienvertretern stets angespannt war. Der es mit 70 Jahren noch einmal wissen wollte.

Nach dem enttäuschenden Achtelfinal-Aus bei der WM 2006 gegen Frankreich war in Spanien ein Umbruch unabdingbar. Die Liste der Probleme war lang: Mangelnde Physis, eine schwächelnde Defensive und eine Mannschaft, die seinen konsequenten und geduldigen Ballbesitzfußball nicht umsetzen konnte. Es half nur Pragmatismus.

Also krempelte Aragones den Kader um. Erfahrene Stars wie Joaquin, Michel Salgado oder Juanito spielten fortan nur noch untergeordnete Rollen. Stattdessen integrierte er vielversprechende Jungstars wie Cesc Fabregas oder David Silva. Spieler mit überragender Ballbehandlung, die seine Spielidee verwirklichen konnten.

Angeführt von Xavi und Iniesta kombinierten sie Spanien zum EM-Titel 2008. Eine Ära des Erfolgs begann, der Nimbus von Spaniens Unbesiegbarkeit war geboren: Tiki-Taka.

Medialer Abgesang aufs Tiki-Taka

Knapp sechs Jahre später, nach Spaniens Vorrunden-Aus bei der WM 2014, wird das Tiki-Taka verbal beerdigt, sein Abgesang zelebriert. "Tiki-Taka ist tot", schrieben zahlreiche Medien, manche schon nach dem desaströsen 1:5 der Furia Roja gegen die Niederlande. Und Giovane Elber stellte in unnachahmlich charmanter Weise fest: "Ab heute gibt's kein TicTac-Spiel mehr."

Dabei ist es zu eindimensional, das Ausscheiden der Spanier auf den vermeintlichen Untergang des Tiki-Taka zu schieben. Die Gründe sind vielschichtiger und hängen keineswegs nur mit dem Spielsystem zusammen.

Spaniens vorzeitiges WM-Aus ist nicht durch das Versagen seines Systems zu begründen, sondern durch das Versagen seiner Protagonisten.

Xavi ein Schatten seiner selbst

Körperlich schienen manche Spieler nicht auf der Höhe zu sein, mental nur die wenigsten. Angefangen beim Barca-Block um den alternden Regisseur Xavi, der geistig bereits in Katar bei seinem wohl künftigen Klub zu sein schien. Gegen die Niederlande war das einstige Gehirn von Barcelona und Spanien ein Schatten seiner selbst.

Anstatt den Spielrhythmus zu bestimmen und zu variieren, verschleppte er das Tempo. Seine tollen Ideen, mit denen er Fußballfans über Jahre verzückte, blieben aus. Es fehlte an geistiger und physischer Frische. Gegen Chile fand er sich auf der Bank wieder.

Auch die Genialität eines Iniesta blieb verborgen. Seine spektakulären Antritte im Offensivdribbling, seine gerissen-geniale Art, Kollegen in Szene zu setzen - all das ließ er vermissen. Und von Pedro waren die spielentscheidenden Impulse ohnehin nicht zu erwarten.

"Barcas Scheitern hat sich übertragen"

Ein Zusammenhang zwischen Barcelonas titelloser Saison und Spaniens kollektiver Enttäuschung ist nur schwer von der Hand zu weisen. Schon nach dem Debakel gegen die Niederlande schrieb die spanischen Sportzeitung "Sport": "Das Scheitern Barcas hat sich auf die Nationalelf übertragen."

Im Anschluss an die Chile-Partie legte die "AS" noch einen drauf: "Die Erschöpfung von Spanien fällt unmittelbar mit der Erschöpfung von Barcelona zusammen. Es ist kein Zufall, dass in beiden Fällen der Zyklus sechs Jahre anhielt und es ist kein Zufall, dass dieser Zyklus zur gleichen Zeit beendet ist, in der ersten Saison nach sechs Jahren, in der Barcelona keinen Titel holt."

Nichtsdestotrotz ist die Schwächephase Barcelonas und seiner Stars nur ein Symptom, nur ein Grund für Spaniens Kollektivversagen.

Desolate Körpersprache

Mindestens genauso blass blieb das königliche Triumvirat Iker Casillas, Sergio Ramos und Xabi Alonso. Casillas stand in beiden Partien neben sich und leistete sich zwei üble Patzer. Alonso leitete das 0:1 gegen Chile mit einem Fehlpass ein und Ramos, der sich in der Champions League noch als möglicherweise komplettester Innenverteidiger der Welt profilierte, blieb ebenso unter seinen Möglichkeiten.

Und Atleticos Diego Costa? Der, der sich für das CL-Finale von einer Wunderheilerin mit Pferdeplazenta-Extrakten fit pflegen ließ, um sich nach neun Minuten auswechseln zu lassen? Costa wirkte wie ein Fremdkörper im Sturm der Furia Roja. Die mangelnde Fitness war ihm jederzeit anzusehen.

Allen, von Barcelona bis Madrid, war eines gemein: eine desolate Körpersprache. Nach den Rückständen wirkte Spanien nicht nur spielerisch hilflos, sondern vor allem mental. Keiner bewies Führungsqualitäten, keiner ergriff die Rolle eines mitreißenden Leaders, nicht einmal für polemische Gestik reichte es.

Besonders bezeichnend war die 90. Minute gegen Chile, als der vierte Offizielle aus vollkommen unersichtlichen Gründen eine sechsminütige Nachspielzeit ankündigte. Sechs Minuten, in denen ein Team noch einmal alles nach vorne werfen, die letzten Reserven mobilisieren könnte. Doch die Spanier schoben sich weiterhin geduldig den Ball zu. Und keiner rüttelte sie wach.

"Wir waren mental nicht darauf vorbereitet"

"Wir haben es nicht geschafft, unseren Hunger, unseren Ehrgeiz aufrechtzuerhalten", gab Xabi Alonso zu. "Wahrscheinlich war unser Erfolgspensum langsam ergeschöpft. Wir waren mental nicht darauf vorbereitet und körperlich nicht bereit." Ein erstaunlich ehrliches Bekenntnis eines Protagonisten von Spaniens WM-Aus.

Bleibt die Frage, weshalb del Bosque nahezu derselben Elf vertraute, die er schon bei den letzten beiden Turnieren zum Triumph geführt hatte. Ob die mangelnde Gier, der mangelnde Hunger nicht vorhersehbar war. Eines steht zumindest fest: Alternativlos war seine Wahl keineswegs.

Junge, hungrige, formstarke Spieler wie Koke waren nur Ersatz. Für Dani Carvajal und Isco, die beide die Saison ihres Lebens hinter sich hatten, war erst gar kein Platz im Kader. Der Ausfall Thiagos kam erschwerend hinzu.

Jenem Thiago wird in der Zukunft zweifellos eine zentrale Rolle zukommen. Von Barcelona für vergleichbar lächerliche 25 Millionen Euro verscherbelt, reifte er bei den Bayern binnen einer Saison unter seinem einstigen Mentor Pep Guardiola zum Weltklasse-Spieler. Er ist als Erster zu nennen, wenn nun öffentlich die Frage nach Xavis Nachfolger in der Nationalmannschaft diskutiert wird.

Eine neue Generation steht bereit

Die Furia Roja steht vor einer Zäsur. Nicht vor einem totalen Umbruch, der sämtliche alternde Kräfte in der Nationalelf ausrotten wird. Vielmehr vor einem, dem zwangsläufig einzelne Routiniers zum Opfer fallen werden.

Thiago, de Gea, Isco, Carvajal und Koke scharren mit den Hufen, dahinter macht sich mit Morata, Jese, Illaramendi, Deulofeu und Co. bereits die nächste Generation bereit.

Doch ob damit das endgültige Ende des Tiki-Taka, wie es medial heraufbeschworen wird, einhergeht, darf bezweifelt werden. In seiner jetzigen Form bedarf es wohl einer Modifikation. Ein Plus an Zielstrebigkeit, an schnellerem Vertikalspiel scheint unabdingbar.

Denn innerhalb der letzten sechs Jahre haben Klubs und Trainer an Gegenmitteln gegen den totalen Ballbesitz gefeilt und ihm damit seine Grenzen aufgezeigt oder ihn selbst weiterentwickelt.

Erinnerung an eine beeindruckende Epoche

Doch genauso, wie die spanische Nationalmannschaft nach dieser WM nicht vollständig umgekrempelt wird, wird auch der Tiki-Taka als Seele des spanischen Fußballs nicht beerdigt werden. Ihre Überbleibsel, die der glorreichen, scheinbar unschlagbaren spanischen Generation sowie die ihres perfektionierten Tiki-Taka werden uns stets eine Erinnerung sein.

Eine Erinnerung an einen einzigartigen Spielstil, zelebriert von den besten Teamplayern seiner Zeit, in einzigartigen Co-Produktionen, bei den größten Turnieren der Welt. Eine Erinnerung an eine beeindruckende Epoche des Weltfußballs, die einst mit Luis Aragones begann und gegen Chile ihr vorübergehendes Ende fand.

Spanien - Chile: Die Statistik zum Spiel