Experte Urs Meier zieht WM-Zwischenfazit zum VAR: "Mir fehlt die Transparenz"

Stefan Zieglmayer
29. Juni 201813:27
Enrique Caceres, Schiedsrichter der Partie zwischen dem Iran und Portugal, verließ sich mehrmals auf den Videobeweis.getty
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Der Videobeweis hat bei seinem WM-Debüt zunächst viel Lob erhalten. Langsam kippt aber die Stimmung. Im Interview zieht der ehemalige Schweizer Top-Schiedsrichter Urs Meier ein Zwischenfazit und hinterfragt neben der Umsetzung des Videobeweises auch die eingesetzten Referees.

Meier leitete während seiner aktiven Schiedsrichter-Karriere zahlreiche Champions-League-Spiele, darunter auch das Finale zwischen Leverkusen und Real Madrid 2002, und kam bei drei WMs zum Einsatz. Bei der Weltmeisterschaft ist er als Schiedsrichter-Experte für das ZDF im Einsatz.

SPOX: Irans Nationaltrainer Carlos Queiroz proklamierte nach dem 1:1 gegen Portugal: "Gäbe es ein wenig Gerechtigkeit, hätte der Iran gewonnen." Er bezog sich dabei auch auf die Schiedsrichterleistung. Hat der Videobeweis das Spiel doch nicht gerechter gemacht?

Urs Meier: In einigen Szenen hat der Videobeweis den Schiedsrichtern sicher geholfen, aber einige Entscheidungen waren einfach falsch.

SPOX: Zu Beginn der Endrunde in Russland wurde die Einführung des VARs noch gelobt.

Meier: Das waren andere Partien. Die Spieler machten es den Unparteiischen auch einfacher. Diese Weltmeisterschaft wurde bisher unglaublich fair bestritten. Das ist toll und ist vielleicht auch ein Nebeneffekt des VARs. Für die Schiedsrichter waren es jedenfalls relativ einfache Spiele. Aber mit den ersten bevorstehenden Entscheidungen wurde es freilich hektischer und intensiver.

SPOX: Und damit hatten einige Schiedsrichter Probleme?

Meier: Ganz offensichtlich. Plötzlich war die Souveränität einiger Schiedsrichter weg. Bei einer WM geht es eben anders zur Sache - vom Tempo, der Intensität und der Mentalität her. Die Anforderungen für den Schiedsrichter werden automatisch größer. Wenn es ans Eingemachte geht, wenn du im richtigen Moment den richtigen Pfiff machen und mit den Spielern kommunizieren musst, schwimmen diese Schiedsrichter. Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Dass sich dann Fehler einschleichen, überrascht mich wenig.

Urs Meier agiert während der WM 2018 in Russland als Schiedsrichter-Experte im ZDF.getty

Urs Meier stellt Niveau der eingesetzten Schiedsrichter bei der WM infrage

SPOX: Hat die WM also eher ein Schiedsrichter- als ein Videobeweis-Problem?

Meier: Nicht nur. Der Videobeweis ist immer noch ein Produkt im Entwicklungsstadium. Man muss hinterfragen, warum oder vor allem von wem die falschen Entscheidungen getroffen wurden. Der Videobeweis ist wie ein Airbag, der aufgehen soll, wenn es richtig crasht, wenn ein klarer Fehler vorliegt.

SPOX: Aber?

Meier: Ein guter Fahrer braucht in der Regel keinen Airbag. Er fährt so gut, dass er diese Hilfe nicht braucht.

SPOX: Fehlen der WM "sichere Fahrer"?

Meier: Bei der WM pfeifen oft Schiedsrichter, die dieses Tempo, diese Dynamik, diesen Druck nicht kennen. Es gab unzählige Szenen, bei denen der Videoassistent zurecht eingegriffen hat und diesen Schiedsrichtern half. Das macht auch Sinn. Die Frage ist nur: Sind die Schiedsrichter ausreichend gut ausgebildet, wenn sie so häufig diesen VAR brauchen? Meiner Meinung nach haben wir mit der Einführung des Videobeweises den zweiten vor dem ersten Schritt gemacht.

SPOX: Inwiefern?

Meier: Die Schiedsrichter sollten endlich professionalisiert werden, damit sie dem Niveau einer WM entsprechen. Einige Schiedsrichter in Russland sind auf diesem Niveau schlicht überfordert.

Urs Meier: "Brauchen Schiedsrichter, die den Fußball verstehen"

SPOX: Wie macht sich das abgesehen von Einzelentscheidungen bemerkbar?

Meier: Bleiben wir beim Spiel zwischen dem Iran und Portugal. Der Schiedsrichter pfiff das Spiel zwar irgendwie, leitete es jedoch in keiner Weise. In Europa hätten wir zig Schiedsrichter, die aus diesem Spiel ein ganz anderes gemacht hätten.

SPOX: Wie?

Meier: Einfach mit ihrer Erfahrung, Persönlichkeit und Ruhe. Aber so brauchst du dreimal den VAR. Dieser Schiedsrichter wusste häufig nicht, was um ihn herum eigentlich passiert. Er spürte nicht, was für ein Spiel das war. Wie oft gingen die Iraner mit gestrecktem Bein in den Gegner? Wie oft hielten sie den Fuß drüber? Das war unglaublich. Wenn der Schiedsrichter das nicht ahndet, nutzen die Spieler das aus. In einem solchen Spiel brauchst du andere Referees.

SPOX: Nach dem Spiel monierten jedoch vor allem die Iraner die Entscheidungen des Schiedsrichter-Teams und forderten zum Beispiel die Rote Karte für Cristiano Ronaldo, der im Laufduell mit Morteza Pouraliganji seinen Gegenspieler mit dem rechten Arm im Gesicht traf. Nach Rücksprache mit dem VAR beließ es der Schiedsrichter bei einer Gelben Karte.

Meier: Das kann man mit Videobildern wahrscheinlich gar nicht richtig beurteilen. Das Entscheidende ist: War es Absicht oder nicht? Als Schiedsrichter auf dem Platz kannst du das spüren, du bist im Spiel drin. Du weißt, was auf dem Platz abläuft. Das sind Szenen im orangenen Bereich. Dazu brauchst du keinen VAR.

SPOX: Sondern?

Meier: Wir brauchen Schiedsrichter, die den Fußball verstehen, die ein Spiel leiten können.

WM 2018: Liste der Schiedsrichter geordnet nach Verbänden

UEFACONMEBOLCONCACAFCAFAFCOFC
F. Brych (GER)J. Bascunan (CHI)J. Aguilar (SLV)M. Abid Charef (ALG)A. Faghani (IRN)M. Conger (NZL)
C. Cakir (TUR)E. Caceres (PAR)M. Geiger (USA)M. Diedhiou (SEN)R. Irmatov (UZB)N. Hauata (TAH)
S. Karasev (RUS)A. Cunha (URU)J. Marrufo (USA)B. Papa Gassama (GAM)M. Mohammed (UAE)
B. Kuipers (NED)N. Pitana (ARG)R. Montero (CRC)G. Grisha (EGY)R. Sato (JPN)
S. Marciniak (POL)S. Ricci (BRA)J. Pitti (PAN)J. Sikazwe (ZAM)N. Shukralla (BHR)
A. Mateu Lahoz (ESP)W. Roldan (COL)C. Ramos Palazuelos (MEX)B. Tessema Weyesa (ETH)
M. Mazic (SRB)
G. Rocchi (ITA)
D. Skomina (SVN)
C. Turpin (FRA)

Urs Meier über fehlende Transparenz und Boatengs Foul an Berg

SPOX: Abgesehen vom Leistungsgefälle der Schiedsrichter: Was halten Sie von der Umsetzung des Videobeweises in Russland?

Meier: Am Anfang griffen die Videoschiedsrichter relativ selten ein - nur bei krassen Fehlentscheidungen. Das fand ich wirklich gut.

SPOX: Richtig zufriedenstellend klingt das nicht.

Meier: Das Problem ist, dass man als Zuschauer nie genau weiß, wann der VAR eingesetzt wird. Das ist schlecht. Es sollte eine Transparenz da sein und die fehlt mir. Es fehlt einfach die klare Linie.

SPOX: Auch die deutsche Mannschaft profitierte von dieser schwammigen Linie, als Jerome Boateng den Schweden Marcus Berg im Sechzehner zu Fall brachte. Wie sahen Sie diese Szene?

Jerome Boateng brachte Marcus Berg im Sechzehner zu Fall - ohne Konsequenzen.getty

Meier: Das ist ein Elfmeter und dann auch eine Rote Karte. Genau im richtigen Moment, in dem Berg schießen wollte, gab Boateng ihm einen Stoß in den Rücken. Da braucht ein guter Schiedsrichter eigentlich keinen VAR. Aber es kann natürlich sein, dass er die Szene nicht richtig gesehen hat, vielleicht hatte er keinen seitlichen Einblick, das kann passieren. Nun war es so, dass der Pfiff ausblieb und der VAR trotzdem nicht eingriff. Wenn es den VAR schon gibt, ist das sicherlich der Moment, in dem er eingreifen müsste.

SPOX: Warum tat er es nicht?

Meier: Das ist von außen schwer nachzuvollziehen. Ich kann mir das auch nicht erklären. Das wäre - um beim Airbag zu bleiben - wie, wenn ich in eine Parklücke einbiege, an die Wand fahre und der Airbag geht auf. Fahre ich aber mit 60 km/h in eine Mauer, geht er plötzlich nicht auf. Warum nicht? Da bin ich nicht der einzige, der das nicht versteht.

Urs Meier über mutige FIFA: "Sie war in der Zwickmühle"

SPOX: Hat sich die FIFA mit der Einführung des VARs einen Bärendienst erwiesen?

Meier: Wenn die FIFA die Technik nicht genutzt hätte, hätte man gefragt: Warum hat man den Videobeweis nicht? Die FIFA war etwas in der Zwickmühle. In beide Richtungen wäre die Entscheidung falsch gewesen. Für mich war es etwas zu früh, die Schwachstellen sind noch nicht alle eliminiert.

SPOX: Für viele Schiedsrichter ist auch der Job als Videoassistent neu.

Meier: Die Videoassistenten haben einen extrem schweren Job in Moskau. Sie haben keine Verbindung zum Spiel, sind nicht wirklich drin. Das sind ganz schwere Entscheidungen. Ich möchte nicht in der Haut dieser Videoassistenten stecken.

SPOX: Wäre eine Lösung, bei der die Videoassistenten im Stadion sitzen, besser?

Meier: Das sind Entscheidungen, die nach der Testphase hätten adäquat evaluiert werden müssen. Die FIFA war aber unter Zugzwang. Wenn man etwas wie den Videobeweis einsetzt, sollten alle damit glücklich sein und das ist nicht der Fall.