Neymar, das weiß man, will unbedingt einmal der beste Fußballspieler der Welt sein. Das werden, wofür er sich schon jetzt hält. "Bei aller Bescheidenheit, ich bin heute der beste Spieler der Welt", sagte er vor der WM, "denn die beiden sind von einem anderen Planeten." Die beiden, die einen so großen Schatten werfen, dass dieser sogar Neymar und seine gelegentlich leuchtenden Haare verdunkelt: Lionel Messi und Cristiano Ronaldo. Die beiden, die den Titel des Weltfußballers in den vergangenen zehn Jahren unter sich aufgeteilt haben. Fünf Mal Messi, fünf Mal Ronaldo.
Aber auch die beiden, die mit ihren Nationen bei dieser WM bereits im Achtelfinale ausgeschieden sind. Die beiden, die älter werden und gerade ein paar Problemchen haben. Messi (31) denkt (mal wieder) nach, ob er aus Argentiniens Nationalmannschaft zurücktreten sollte und ob ihn seine Landsleute eigentlich genug lieben. Ronaldo (33) überlegt (mal wieder), ob er Real verlassen sollte und ob er eigentlich genug verdient und ihn die Fans genug lieben.
Währenddessen könnte Neymar Brasilien durch die WM führen. Er könnte magische Dribblings zeigen, Assists geben und Tore schießen. Er könnte sich danach von Mitspielern auf den Schultern durchs Stadion tragen lassen. Er könnte ein Star dieser WM werden. Für die, die es nicht mitbekommen haben: Er ist auf dem Weg dazu.
Neymar schafft Traumhaftes und zerstört es
Aus seiner Sicht unglücklicherweise haben es einige aber tatsächlich nicht mitbekommen. Wahrscheinlich sogar die meisten, vielleicht sogar alle. Schuld daran ist - nur der Vollständigkeit halber - übrigens Neymar selbst.
Er verhält sich bei der WM in Russland zunehmend wie ein Sänger, der die melodischsten Lieder singt, aber seine Platten nachher wild mit den Fingernägeln zerkratzt. Wie ein Maler, der die spektakulärsten Bilder zeichnet, aber dann achtlos einen Topf Farbe drüber kippt. Wie ein Bildhauer, der die faszinierendsten Skulpturen kreiert, ehe er seinen Hammer dagegen schleudert. Neymar schafft Traumhaftes und zerstört es danach mit seinem eigene Verhalten. Er sorgt selbst dafür, dass es in Vergessenheit gerät.
Vier Spiele hat Neymar bei dieser WM bisher absolviert und in Erinnerung geblieben ist zum Beispiel eine Szene, es war beim Spiel gegen Costa Rica, als er im gegnerischen Strafraum die Arme zur Seite streckte und sich ganz langsam wie ein Turmspringer, der sich zunächst nicht traut, aber dann irgendwann doch, rücklings fallen ließ.
Und eine andere Szene, es war beim letzten Gruppenspiel gegen Serbien, als sich Neymar nach einem Foul sieben Mal um die eigene Achse drehte und dabei wie ein beschleunigendes Motorrad immer schneller zu werden schien.
Und dann noch eine Szene, beim Achtelfinale gegen Mexiko, als ihm sein Gegenspieler Miguel Layun auf den Knöchel stieg und Neymar eine Nahtodphase zu durchleben simulierte. Er schrie und plärrte und schien zu verenden, ehe er wundersam wiederauferstand und weiterlief.
Neymar: Das personifizierte Kontrastprogramm zum Ballgeschiebe
Das sind die Szenen, die bisher von Neymar hängen blieben, öffentlich diskutiert und analysiert wurden. Es wird gelacht über Trinkspiele, Werbespots und Memes auf seine Kosten. Das Schweizer Fernsehen rechnete aus, wie lange Neymar bei dem Turnier bisher auf dem Rasen lag: Es sind 14 Minuten.
Da bleibt keine Zeit mehr, über seinen Treffer zum 1:0 gegen Mexiko zu reden: Vor dem Strafraum zog Neymar in die Mitte, spielte den Ball mit der Ferse zurück zu Willian und schob ihn kurz darauf ins Tor. Traumhaft. Keiner redet über seine unwiderstehlichen Dribblings, die er vor allem gegen Mexiko zeigte - zu den meisten aller WM-Spieler hat er bisher angesetzt (40), die drittmeisten erfolgreich absolviert (19). Oder über seine Schüsse (23) und Torschussvorlagen (16), mehr als jeder andere Spieler hat er bisher jeweils geliefert. Außerdem hatte er mit Abstand die meisten Ballkontakte im gegnerischen Strafraum aller Spieler (48).
Neymar ist in einem Spiel auch mal minutenlang unscheinbar, klar, aber sobald er wieder auftaucht hebt er sich mit seiner Zielstrebigkeit und seinem Zug zum Tor ab. Er ist fußballerisch das personifizierte Kontrastprogramm zum Ballgeschiebe, mit dem die beiden vorangegangenen Weltmeister Deutschland und Spanien kläglich scheiterten. Er verkörpert Mut zum Unerwarteten, traut sich was - auch wenn es gelegentlich misslingt. Er bringt Anarchie in dieses Turnier.
Und steigerte sich bisher von Spiel zu Spiel. Wenn er das beibehält, könnte es sein Turnier werden, es könnte vielleicht sogar - will man ein bisschen übertrieben pathetisch werden - der Auftakt seiner Dominanz im Weltfußball werden. Neymar könnte Weltmeister werden und deshalb vielleicht sogar Weltfußballer. Er ist auf dem Weg, aus dem Schatten der beiden treten. Aber weil er sich zu viel im Schatten von umherstehenden Spielern auf dem Rasen wälzt, bekommt davon niemand etwas mit.
Neymars Leistungen mit Brasilien bei dieser WM
Spieltag | Gegner | Ergebnis | Tore | Assists |
Vorrunde | Schweiz | 1:1 | - | - |
Vorrunde | Costa Rica | 2:0 | 1 | - |
Vorrunde | Serbien | 2:0 | - | 1 |
Achtelfinale | Mexiko | 2:0 | 1 | 1 |