Alphonso Davies sprang wild durch seine Münchner Wohnung, dann brach er in Tränen auf dem Boden zusammen, immer wieder griff er nach seiner kanadischen Flagge. "Oh mein Gott, wir haben es geschafft", schrie er in seinen Twitch-Stream. Erstmals seit 1986 und zum insgesamt erst zweiten Mal hat sich Kanada für eine WM qualifiziert.
Vor dem abschließenden Spiel gegen Panama führt Kanada die nordamerikanische Qualifikationsgruppe an. Die Verfolger USA und Mexiko sind ebenfalls so gut wie qualifiziert. Sie könnten nur mehr theoretisch von Costa Rica abgefangen werden. Der vierte Platz berechtigt zur Teilnahme am interkontinentalen Playoff gegen einen ozeanischen Vertreter.
Kanada absolvierte am Sonntag den letzten Schritt mit einem souveränen 4:0-Sieg gegen Jamaika. Davies verpasste das Spiel wegen seiner Reha nach einer Herzmuskelentzündung. Zuletzt äußerte er sich optimistisch bezüglich eines baldigen Comebacks. Inwiefern seine Gefühlsausbrüche der Herzensheilung zuträglich sind, sei einmal dahingestellt.
Der 21-jährige Triple-Sieger ist der unumstrittene Star der Mannschaft. Dieser Rolle wurde Davies mit seinen emotionalen Aufnahmen auch ohne Teilnahme am entscheidenden Sieg gerecht. Letztlich haben wohl mehr Menschen Davies' Jubelarien gesehen, als die Treffer seiner Kollegen gegen Jamaika. Es steckt aber noch viel mehr hinter dem Aufschwung des kanadischen Fußballs als nur Davies.
John Herdman: Erfolge mit Frauen und Männern
Einen entscheidenden Anteil an der positiven Entwicklung hat ein 46-jähriger ehemaliger Sportlehrer aus Durham im Nordosten Englands. John Herdman spielte nie professionell Fußball, seine Leidenschaft galt stets dem Trainerjob. Er wolle beweisen, sagte Herdman mal dem Guardian, dass "ein Kerl, der 400 Bücher gelesen hat, ein genau so erfolgreicher Trainer sein kann wie einer, der 400 Spiele absolviert hat".
Erste Trainererfahrungen sammelte Herdman in der Nachwuchsakademie des AFC Sunderland, wo er während seines Studiums jobbte. Im Alter von 26 Jahren brach Herdman nach Neuseeland auf und wurde Frauen-Nationaltrainer. Zehn Jahre blieb er dort, ehe es ihn in selber Rolle auf die andere Seite des Planeten verschlug.
2011 übernahm Herdman die kanadische Frauen-Auswahl, mit der er beachtliche Erfolge feierte. Zweimal in Folge gelang Bronze bei den Olympischen Spielen, im vergangenen Sommer in Tokio dann sogar Gold. Da war Herdman aber schon zu den Männern gewechselt, die er seitdem in der Weltrangliste von Platz 94 auf 33 führte. Keine andere Nation verbesserte sich in diesem Zeitraum mehr, überhaupt war Kanada noch nie besser positioniert.
John Herdman machte aus Kanada eine Fußball-Nation
"Canada can", verkündete Herdman nach der geschafften WM-Qualifikation poetisch wie jemand, der 400 Bücher gelesen hat. "Das ist eine echte Fußball-Nation." Dass es das ist, fand das flächenmäßig zweitgrößte Land der Welt aber erst in den vergangenen Monaten heraus. Im Zuge der WM-Qualifikation brach erstmals in der Geschichte der Eishockey-Nation Kanada eine echte Fußball-Euphorie aus.
Exemplarisch dafür steht die Entwicklung der TV-Einschaltquoten, als im vergangenen Herbst die Qualifikation für die WM in Katar immer wahrscheinlicher wurde. Den Sieg gegen Panama sahen knapp 350.000 Menschen, beim darauffolgenden Erfolg gegen Costa Rica waren es etwa doppelt so viele und wenige Tage später gegen Mexiko 1,2 Millionen.
Die bisher einzige WM-Teilnahme 1986 hätte die breite Öffentlichkeit Aussagen von Zeitzeugen zufolge eher weniger interessiert, das tor- und punktlose Ausscheiden tat ihr übriges. Als Tiefpunkt der nationalen Fußballgeschichte gilt ein 1:8 gegen Honduras 2012.
Der wohl berühmteste in Kanada geborene Fußballer aller Zeiten wollte sich die Misere nicht antun: Owen Hargreaves aus Calgary, ehemals beim FC Bayern München und Manchester United aktiv, entschied sich lieber für die Nationalmannschaft der Heimat seines Vaters - England.