Im Interview mit SPOX und GOAL spricht Rettig über die Argumentation von Hoeneß, die Kritik an ihm in den sozialen Medien und das Schicksal des kenianischen Arbeitsrechtsaktivisten Malcolm Bidali, der einst in Katar verhaftet wurde.
Herr Rettig, wir würden mit Ihnen gerne über den Anruf von Uli Hoeneß im Doppelpass am Sonntag sprechen. Wo erwischen wir Sie gerade?
Andreas Rettig: In Berlin bei der 21. Jahreskonferenz des Rats für Nachhaltige Entwicklung.
Waren Sie denn überrascht, als Hoeneß plötzlich anrief?
Rettig: Ja, obwohl er darin bekanntermaßen geübt ist.
Was ist passiert, nachdem er aufgelegt hat - haben Sie sich zwischenzeitlich noch einmal ausgetauscht?
Rettig: Nein, aber natürlich stehe ich diesbezüglich für einen persönlichen Austausch immer zur Verfügung.
Wie kann es überhaupt sein, dass beim Thema Katar die Meinungen so weit auseinandergehen?
Rettig: Das passiert, wenn ein Katar-Lobbyist auf einen Überzeugungstäter in Sachen Menschenrechte trifft.
Hoeneß hat Sie konkret danach gefragt, ob Sie im Winter nicht mehr so warm duschen würden. Wie lautet Ihre Antwort?
Rettig: Ich war noch nie ein Warmduscher. (lacht)
Sollte Deutschland künftig Gas aus Katar beziehen und damit heizen - wäre das in Ihren Augen in Ordnung oder sollten mit Katar überhaupt keine Geschäfte gemacht werden?
Rettig: Leider werden hier unzulässigerweise die Ebenen vermischt. Man kann ein strategisch eingesetztes Sportswashing eines autokratisch geführten Staates ohne Presse- und Meinungsfreiheit und massiven Menschenrechtsverletzungen, der sich zudem durch die Ausrichtung einer WM einen persönlichen Imagetransfer verspricht, nicht mit einer unverschuldet in Energienot geratenen Volkswirtschaft und deren Bekämpfen aufrechnen.
Welchen tieferliegenden Hintergrund vermuten Sie hinter Hoeneß' emotionalem Anruf?
Rettig: Ich weiß nicht. Vielleicht Langeweile...
Was entgegnen Sie Hoeneß' Aussage, die WM und das Engagement des FC Bayern werden in der Golfregion zu besseren Arbeitsbedingungen führen?
Rettig: Wandel durch Handel hat schon an anderer Stelle nicht zum Erfolg geführt.
Hoeneß hat kritisch angemerkt, dass er im Gegensatz zu Ihnen bereits in Katar war und daher die Lage beurteilen könne. Warum wäre eine Reise von Ihnen nicht die richtige Antwort auf die Kritik?
Rettig: Dass er einen gut zahlenden Partner besucht, überrascht nicht. Herr Hoeneß war eventuell auch noch nicht in Nordkorea und wird das dortige Regime dennoch sicher auch nicht goutieren.
Welchen Denkfehler begeht Hoeneß bei seiner Argumentation in Ihren Augen?
Rettig: Wenn sich die Aktionäre eines Unternehmens dafür entscheiden, an Katar Anteile zu verkaufen, kann man das kritisieren. Dann ist das aber die Entscheidung der Anteilseigner. Der größte Anteilseigner des FC Bayern sind die Mitglieder. Wenn diese ein derartiges Engagement ablehnen, ist das zu akzeptieren. Für den FC Bayern scheint das Votum seiner Mitglieder eher nachrangig zu sein.
Wie wahrscheinlich schätzen Sie es ein, dass sich DFB-Präsident Neuendorf mit dem Fonds für Todesopfer durchsetzen kann - und wie würde das am Ende konkret aussehen?
Rettig: Ich bin zuversichtlich, ein Fonds würde den Baustellenopfern des Stadionausbau zugute kommen und wäre ein gutes und notwendiges Signal. Hier setze ich große Hoffnungen in den neuen DFB-Präsidenten.
Wie sinnvoll ist ein Boykott - auch wie Sie ihn beschrieben haben, wenn man einzelne Spiele nicht schaut, andere aber schon?
Rettig: Jede Aktivität, die darauf einzahlt, dass das katarisches Sportswashing nicht verfängt, ist zu begrüßen und hilft. Das unterstütze ich sehr gerne.
In den sozialen Medien wurden Sie für Ihre Aussage kritisiert, mit einem Boykott der WM-Spiele ein Zeichen setzen zu wollen. Die deutschen Partien wollen Sie aber vermutlich anschauen. Beißt sich das nicht?
Rettig: Diese Kritik kann ich nachvollziehen. Meine Fußballleidenschaft treibt mich aber so manches Mal zu einer schwer nachvollziehbaren Unvernunft.
Was hat der von Ihnen genannte Arbeitsrechtsaktivist und Blogger Malcolm Bidali aus Kenia über die Lage in Katar erzählt?
Rettig: Ich durfte den Ausführungen von Malcolm Bidali am vergangenen Samstag bei der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten sogenannten Speakerstour in Frankfurt zuhören und habe seine Aussagen auch in anderen Medien gelesen. Er ist 2010 von Kenia nach Katar gekommen. Er war dort in Arbeitslagern außerhalb der Stadt in Räumen mit bis zu zwölf Menschen untergebracht - ohne Küche oder Catering. Er arbeitete als Wachmann und wurde zu Überstunden gezwungen, was zwölf oder mehr Stunden Arbeit am Tag bedeutete. Nachdem er die Erfahrungen von seinen Kollegen und ihm auf einer Website veröffentlichte, wurde er verhaftet. Er ist jetzt wieder in Kenia und hat eine Hilfsorganisation für Migranten gegründet.
Wie sah der konkrete Anlass aus, weshalb Bidali verhaftet wurde?
Rettig: Es kam dazu, weil er einen Text über Katars Königin Sheikha Moza veröffentlichte. Das eigentliche Verbot, aufgrund der extremen Temperaturen im Sommer in der Mittagszeit draußen zu arbeiten, galt für Wachmänner nicht. Sie hatten die Route der Königin dennoch zu bewachen. Viele tranken nichts und wurden ohnmächtig. Das macht Bidali öffentlich.
Wie erging es ihm nach seiner Verhaftung?
Rettig: Ihm wurden im katarischen Innenministerium Handschellen angelegt und alle Gegenstände abgenommen. Anschließend wurde er befragt, inwiefern er mit Menschenrechtsorganisationen involviert ist. Ein Anwalt wurde ihm verwehrt. Mit Handschellen und Augenbinde führte man ihn in eine Zelle ohne Fenster, wo er Dokumente auf Arabisch, was er nicht verstand, zu unterschreiben hatte. Es war psychische Folter.
Wie kam Bidali schließlich frei?
Rettig: Das weiß er bis heute nicht so richtig. Während seiner Inhaftierung bekam er aber Besuch des kenianischen Botschafters und von Mitgliedern des Nationalen Menschenrechtskomitees. Zudem erhielt die katarische Königsfamilie von einheimischen Studenten einen Brief, in dem seine Freilassung gefordert wurde. Er selbst glaubt, dass ihm vor allem die Unterstützung des Europäischen Parlaments geholfen hat.