"S04 knabbert an Bochums Nachwuchs"

Daniel Reimann
01. August 201423:17
Peter Neururer ist seit 2013 wieder Trainer des VfL Bochumgetty
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Peter Neururer ist Kultfigur und Retter des VfL Bochum. Im Interview mit SPOX spricht Neururer über die Finanznot in Bochum, den Aufstieg seiner Ex-Schützlinge Christoph Kramer und Leon Goretzka sowie den erbitterten Kampf um Talente im Ruhrpott.

SPOX: Hallo, Herr Neururer! Erst einmal ein Dankeschön für den Lacher am Morgen! Der Freizeichenton an Ihrem Handy ist klasse! Ich sitze hier im Büro, habe das Telefon zur Aufnahme auf Lautsprecher gestellt und gebe mir "Born to be wild".

Neururer (lacht): Stimmt, richtig. Wenn ich von meinem Telefon aus anrufe, erklingt übrigens "Spiel mir das Lied vom Tod".

SPOX: Klingt düster. Dabei dürfte die Stimmung angesichts der letzten Testspiele bestens sein, oder?

Neururer: Siege geben Selbstwertgefühl, klar. Aber die Ergebnisse der Vorbereitung interessieren mich überhaupt nicht. Das einzig Wichtige ist, dass sich die Mannschaft gut verkauft hat. Das ist beachtlich, da wir taktisch erst in der Woche vor dem Fürth-Spiel richtig ins Feintuning gehen. Bisher ging es eher darum, dass die Mannschaft sich findet.

SPOX: Wie steht's denn um die Kaderplanung für die kommende Saison? Wo herrscht noch Bedarf?

Neururer: Die Frage darf man normalerweise hier nicht stellen. Wir haben in der Offensive alles getan, wozu wir imstande sind. Wir haben jetzt viele Variationsmöglichkeiten. Aber im Defensivbereich fehlt es an Quantität, da ist die Personaldecke ein bisschen dünner. Wenn sich jemand verletzt, haben wir nicht so viele Variationsmöglichkeiten wie in der Offensive.

SPOX: Wird also noch prophylaktisch in die Breite investiert? Oder fehlen dazu die Mittel?

Neururer: Wir können keine Ablösesummen bezahlen. Aber im Rahmen unserer finanziellen haben wir alles Machbare getan. Wir müssen uns weiterentwickeln und vielleicht durch ein Weiterkommen im Pokal mehr Gelder erhalten, um vielleicht im nächsten Jahr höhere Ziele anzupeilen.

SPOX: Zudem fehlt Ihnen derzeit ein weiterer Spieler im Kader: Fabian Holthaus, der bei der U19-EM dabei ist. Viele andere Vereine - zum Beispiel Schalke im Fall Max Meyer - haben ihren Spielern keine Freigabe erteilt. War das für Sie ein Thema?

Neururer: Überhaupt nicht. Ich habe da eine andere Einstellung. Er hat sich mit dieser Mannschaft qualifiziert, man sollte ihm im Sinne seiner eigenen Weiterentwicklung den nächsten Schritt nicht verwehren. Es wird immer von Unterstützung der Jugend geredet. Aber wer A sagt, muss auch B sagen. Auch wenn es mir weh tut, in der Vorbereitung auf wichtige Spieler verzichten zu müssen. Denn im Gegensatz zu Schalke 04 oder anderen Vereinen habe ich nicht so viele Alternativen.

SPOX: Auch für die U19-Mannschaft selbst sind fehlende Leistungsträger ein Problem. Sie haben letztes Jahr am DFB laute Kritik geübt, als wichtige U21-Spieler für die USA-Reise des A-Teams nominiert wurden und nicht an der U21-EM teilnehmen konnten. Setzt man da den Ruf der deutschen Jugendteams aufs Spiel?

Neururer: Dieses Mal ist es zwar gut geganen, weil die U19 völlig zurecht Europameister geworden ist. Generell habe ich aber für solche Aktionen wenig Verständnis. Aber ich habe da keinen Absolutheitsanspruch. Ich kann nur meine eigenen Entscheidungen treffen und will anderen nicht reinreden.

SPOX: Haben die Jugendnationalteams womöglich eine zu geringe Bedeutung in Deutschland?

Neururer: Für mich ist ihre Bedeutung groß. Der Jugendfußball auf nationaler Ebene ist elementar für die Entwicklung. Deutschland ist Weltmeister geworden. Wäre das möglich gewesen, wenn die meisten Spieler nicht schon in den Jugendnationalteams wichtige Erfahrungen gesammelt hätten?

SPOX: Ihr Spieler Holthaus gilt als großes Talent. Er stammt aus Hamm, quasi der erweiterten Region. Wie schwer ist es für den VfL, in diesem gewaltigen Ballungsraum Ruhrpott Talente zu überzeugen?

Neururer: Es ist schon sehr schwer, große Talente an Land zu ziehen. Dennoch gelingt es uns immer wieder. Viel schwerer als diese Spieler zu verpflichten, ist allerdings sie zu halten. Viele andere Vereine, wie zum Beispiel Schalke im Fall Leon Goretzka, knabbern am Bochumer Nachwuchs und wollen von unserer guten Jugendarbeit profitieren.

SPOX: Auch schon im Juniorenbereich?

Neururer: Vor wenigen Tagen ist erst wieder ein Spieler aus unserer A-Jugend zu Schalke 04 gewechselt.

Seite 1: Neururer über die Finanznot, seinen U19-Helden und den Kampf um Talente

Seite 2: Neururer über RB Leipzig und die Entwicklung seiner Ex-Schützlinge

SPOX: Fredi Bobic echauffierte sich oft über Abwerbungsversuche junger Spieler durch andere Vereine wie beispielsweise RB Leipzig. Haben Sie Verständnis für seine Kritik?

Neururer: Man muss mit diesem Umstand leider leben. Ob man das Projekt RB Leipzig nun gut findet oder nicht. Die Stadt Leipzig braucht Zweit- oder Erstligafußball, um fußballerisch nicht vor die Hunde zu gehen. Was Red Bull für den Sport und für die Jugend leistet, ist großartig. Ohne Red Bull wäre Leipzig nicht annähernd im Bereich des bezahlten Fußballs. Die Art und Weise, wie der Fußball dort angesiedelt wurde, ist natürlich für manche fragwürdig. Ob das mit Financial Fairplay oder gesunder Konkurrenz zu tun hat, steht auf einem anderen Blatt.

SPOX: Fühlt es sich unfair an für einen Verein wie Bochum, der keine Ausgaben tätigen darf?

Neururer: Klar ist frustrierend, wenn man sieht, dass die Spieler aus unserem Nachwuchs bei den Profis Fuß fassen und dann nicht mehr gehalten werden können, weil andere Vereine wie Leipzig oder Hoffenheim, die nur durch Finanzkraft aufgestiegen sind oder gar geschaffen wurden, diese Spieler abwerben. Aber das gilt für viele andere Vereine, die uns finanziell überlegen sind. Das weiß man, wenn man zum VfL Bochum kommt. SPOX

SPOX: Sehen Sie den Verband in der Pflicht, für mehr Chancengleichheit zu sorgen?

Neururer: Wir haben die Umstände zu akzeptieren. Solange die DFL bzw. der DFB das zulässt, stehen diese Vereine mit uns im Wettbewerb. Ob das nun fair ist oder nicht, spielt keine Rolle. Und man darf dabei nicht vergessen: Es wird auch eine ganze Menge für den Sport getan, das sieht man am Beispiel Hoffenheim. Was SAP in der ganzen Region aufgebaut hat, ist klasse. Aber klar ist: Hoffenheim kam nur durch Finanzkraft nach oben.

SPOX: Sie sprachen den Wechsel von Bochumer Talenten an - zum Beispiel Leon Goretzka. Sie haben im Winter den Zeitpunkt seines Abschieds zu Schalke im Sinne seiner eigenen Entwicklung kritisiert.

Neururer: Ich habe nur gesagt, dass es damals nicht richtig war, den VfL Bochum zu verlassen. Der Wechsel zu Schalke ist nicht verkehrt. Aber der Zeitpunkt - so kurz vor dem Abitur - war falsch. Bei Schalke konnte man in Verbindung mit dem Training keine Rücksicht auf seine schulischen Abläufe nehmen. Während der Vorbereitung stand er mitten im Abitur und drohte dann den Anschluss zu verlieren. Das gefährdete seine Weiterentwicklung. Dass er am Ende eine solche Entwicklung nahm, hat nicht nur mit seiner unglaublichen Qualität zu tun.

SPOX: Sondern?

Neururer: Es ist auch der Tatsache geschuldet, dass sich auf Schalke zahlreiche Spieler zu diesem Zeitpunkt verletzt hatten. Hätte es diese Verletzungen nicht gegeben, hätte er nicht so viele Spiele absolviert. Ich bin immer der Meinung, dass man sich als Spieler auf die Faktoren beschränken sollte, die man selbst beeinflussen kann. Darum ging es mir.

SPOX: In der Rückrunde startete Goretzka endgültig durch und wurde sogar in den vorläufigen WM-Kader nominiert. Beim VfL Bochum wäre ein solch rascher Aufstieg schwer geworden, oder?

Neururer: Auch wenn er hier Stammspieler war, hätte er es hier nicht in so kurzer Zeit zum Nationalspieler geschafft. Wie denn auch?

SPOX: Was überwiegt denn als ehemaliger Trainer, wenn man seinen Ex-Schützling plötzlich im Nationaltrikot sieht? Die Freude über dessen Aufstieg oder die Trauer, dass er nicht zu halten war?

Neururer: Es war eine riesengroße Freude, auch wenn ich nur sechs Wochen lang Goretzkas Trainer war. In einer Phase, wo der VfL Bochum ums Überleben kämpfte. Aber es ist auch traurig, wenn ein Goretzka oder auch ein Christoph Kramer, ein Jahr bevor sie Nationalspieler werden, noch beim VfL Bochum spielten, aber einfach nicht zu halten waren.

SPOX: Goretzka wurde letztlich aus dem vorläufigen WM-Kader gestrichen. Wäre eine WM nach dem kometenhaften Aufstieg womöglich zu früh gekommen?

Neururer: Eine WM kommt nie zu früh. Aus jeder Erfahrung kann man lernen. Man lernt aus allen Dingen, aus jedem Spiel, aus jedem Turnier.

SPOX: Beispiel Christoph Kramer, der plötzlich im Finale auf dem Feld stand?

Neururer: Das war traumhaft, superklasse! Vor allem, wenn man bedenkt, dass er ein Jahr zuvor noch für einen Verein gespielt hat, der fußballerisch am Abgrund zur 3. Liga stand. Mit Kramer und Goretzka! Wenn mir damals jemand gesagt hätte: "In einem Jahr steht Kramer im WM-Endspiel und wird Weltmeister", dann hätte ich ihm gesagt: "Junge, wechsel' mal die Sportart!" Man konnte bei beiden das Talent erkennen. Aber eine solche Entwicklung war unvorhersehbar.

SPOX: Wie im Fall Goretzka sagen Sie gerne in der Öffentlichkeit Ihre Meinung. Gibt es irgendeine Aussage aus Ihrer Karriere, die sie wirklich bereuen?

Neururer: Ja, die gibt es. Als ich 2005 als Bochum-Trainer nach dem 2:6 gegen Mainz gesagt habe, dass ich im Falle einer Niederlage im nächsten Spiel, die den Abstieg bedeuten würde, zurücktreten werde. Das bereue ich.

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