"Der VfB muss wie ein Start-up denken"

Jan Schindelmeiser arbeitet seit Juli 2016 für den VfB Stuttgart
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SPOX: Sie denken aber nicht nur familiär, sie schauen sich auch genau um, welche Felder generell im Sport immer mehr an Bedeutung gewinnen, wie das Thema Daten. So gibt es beim VfB einen neuen Bereich "Daten Management und Analyse". Dafür haben Sie extra einen Experten aus den USA engagiert. Warum?

Schindelmeiser: Es ist ja kein Geheimnis, dass das Thema Daten und Digitalisierung generell immer mehr an Bedeutung gewinnt. Schauen Sie in die USA und wie das Thema dort im Baseball, Football oder Basketball behandelt wird. Es geht darum, wie präzise man heute Daten erfassen und wie man sie so interpretieren kann, dass daraus klare KPIs entstehen. Wie können wir aufgrund von Daten zum Beispiel eine größere Sicherheit bei der Verpflichtung von Spielern herstellen? Wir haben jetzt schon riesige Datensätze zur Verfügung, aber es geht noch um die Präzision. Die klassischen Kategorien wie Zweikampfquoten und gelaufene Kilometer sind Banalitäten. Es geht mehr in die Tiefe, um Raum-Zeit-Veränderungen. Auch darum, Daten zueinander in Beziehung zu setzen, um zu sehen, wie wertvoll ein Spieler für eine Mannschaft ist. Je mehr wir dort eintauchen, desto mehr befinden wir uns nicht mehr nur auf dem Fachgebiet eines Fußballlehrers. Wir brauchen innovative Menschen, beispielsweise von Amazon oder Ebay. Wenn ich diese Expertise dann mit Fußball-Know-how verbinde, wird es spannend und es entstehen interessante Themenfelder.

SPOX: Die Frage ist, ob der Typ von Amazon gefüttert von der Maschine am Ende vielleicht die besseren Spieler verpflichten würde ...

Schindelmeiser: Wer weiß. (lacht) Nein, die Wissenschaft soll uns nicht dominieren, sie soll uns unterstützen. Sie soll das, was wir sehen, klarer machen. Helfen, schnellere Entscheidungen zu treffen. Auch überprüfbarere Entscheidungen zu treffen. Natürlich spielt die subjektive Bewertung am Ende die entscheidende Rolle, aber wir sollten die Hilfe in Anspruch nehmen, um objektivierbarere und damit hoffentlich bessere Entscheidungen zu treffen. Aber Sie haben Recht: Lassen Sie uns das mal zehn bis 15 Jahre machen, die Datenfülle auswerten und danach abgleichen. Welche Vorhersage führt eher zum Ziel? Die von den drei Scouts? Oder doch eher die von der Maschine? Das ist eine spannende Frage. Aber ich möchte Personalentscheidungen keiner Maschine überlassen. Ich glaube auch nicht, dass ich damit durchkomme, wenn ich bei einer falschen Entscheidung sage, der Computer in meinem Büro ist schuld. (lacht) Die Verantwortung liegt immer bei den Menschen.

SPOX: Hört sich so an, als ob der VfB da eine Art Vorreiter-Rolle spielen will.

Schindelmeiser: Es wird sicher nicht die letzte Personalie auf diesem Gebiet gewesen sein. Wir sehen jetzt schon Effekte und an spannenden Themengebieten mangelt es nicht. Wir haben Drohnen im Trainingsbetrieb getestet, werden sie punktuell auch einsetzen. Im Bereich Leistungsdiagnostik und Trainingssteuerung ist noch Luft nach oben. Vor dem Hintergrund, wie extrem sich der Fußball gerade hinsichtlich Schnelligkeit weiterentwickelt hat und es auch in den nächsten Jahren noch weiter tun wird, ist das Thema Druck interessant. Zeitdruck, Raumdruck, Gegnerdruck - gerade die Spieler im Zentrum des Feldes werden über immer bessere kognitive Fähigkeiten verfügen müssen. Hier wollen wir Lösungsansätze entwickeln. Dann sind wir auch schnell beim Thema Virtual Reality und der Nutzung von Datenbrillen. Wie kann ich mit Hilfsmitteln, innerhalb von nur zehn Minuten bestimmte Entscheidungsmuster 50 Mal trainieren? Auch wir sind bestrebt, uns auf den wesentlichen die Leistung bestimmenden Feldern, einen kleinen Wettbewerbsvorteil zu erarbeiten, wenn wir schnell genug sind. Dafür brauchen wir Experten, die sich bei diesen Fragen viel besser auskennen als wir. Aber eines ist auch klar: Egal wie spannend diese Materie ist, wir dürfen uns darin nicht verlieren. Es hat alles keine wirkliche Relevanz für den Ausgang eines Spiels. Da bleibt das einzige Kriterium, ob Du den Ball ins gegnerische Tor bekommst und aus deinem eigenen heraushalten kannst.

SPOX: Neben dem Bereich Daten haben Sie noch das Gebiet "Weltstands-Analyse" ins Leben gerufen. Was können wir uns darunter vorstellen?

Schindelmeiser: Es geht einmal darum, wirklich den Daumen am Puls zu haben im Weltfußball. Was sind die Trends bei großen internationalen Turnieren? Wir erinnern uns: Bei der WM in Brasilien war die Dreierkette der Chilenen plötzlich ein Thema, mit dem andere Teams nicht klargekommen sind. Wie schaffen es Spieler, Positionen in bestimmten Systemen idealtypisch zu bekleiden und Spielsituationen zu lösen? Wie verhalte ich mich als Sechser idealtypisch in der Spieleröffnung? Im Pressing? Wir suchen nach idealtypischen Verhaltensweisen, die dann wieder als Vorbild für unsere jungen Spieler dienen können. Oftmals ist es so, dass Innovation nicht bei den besten Teams entsteht, sondern bei denen, die einen größeren Leidensdruck haben und sich kreativere Lösungen ausdenken müssen, wenn sie die Großen ärgern wollen. Das gilt auch für uns. Wir wollen innovativ sein. Wir wollen gern auch mal Rule-Breaker spielen, einen anderen Weg gehen. Dafür müssen wir wissen, was auf der Welt passiert im Fußball. Aber verstehen Sie mich bitte richtig: Andere Vereine arbeiten auch richtig gut und innovativ. Und wenn wir da mithalten wollen, müssen wir uns etwas einfallen lassen. Denn finanziell können wir den Abstand so schnell nicht aufholen.

SPOX: Jetzt haben wir viel über verschiedene Positionen und Felder gesprochen, die wichtigste Personalie bleibt aber der Trainer. Die Verpflichtung von Hannes Wolf war ein gewisses Risiko, scheint sich aber zu hundert Prozent auszuzahlen. Was zeichnet Ihren Coach aus?

Schindelmeiser: Hannes Wolf hat nicht nur die unbedingt notwendige Fachkompetenz für den Job, er hat vor allem die Persönlichkeit. Er hat ein sympathisches Wesen, aber auch die Fähigkeit und Eloquenz, seine Gedanken klar zum Ausdruck zu bringen. In einer bemerkenswerten Offenheit und Ehrlichkeit. Er scheut sich nicht davor, Dinge beim Namen zu nennen und auch harte Entscheidungen zu treffen - und damit auch zu "verletzen". Als Trainer musst Du jede Woche Spieler enttäuschen, sie dann aber trotzdem auf der Reise mitzunehmen, ist eine Kunst. Diese beherrscht er hervorragend, weil er authentisch ist und gerecht. Es gibt Trainer, die behaupten, dass Trainingsleistungen wichtig sind, aber dann doch immer die gleichen spielen lassen. Das ist bei Hannes anders und das schafft Vertrauen. Er bringt alles mit, was man als Trainer braucht, um auf Dauer erfolgreich zu sein. Ich würde mir wünschen, dass es der Anfang einer großen Trainerkarriere beim VfB ist. Sie haben gesagt, dass es ein gewisses Risiko für uns war. Das stimmt, aber zum einen war es auch für ihn ein Risiko und zum anderen war es viel mehr Chance als Risiko. Wir konnten ja nicht sagen, dass wir wieder der DNA des Klubs gerecht werden und uns dazu bekennen wollen, auf junge Spieler zu setzen, und dann einen Trainer holen, der nur mit 30-Jährigen arbeiten will. Das hätte wenig Sinn ergeben. Hannes Wolf passt perfekt zum VfB Stuttgart.

SPOX: Sie haben die Philosophie und Vision schon thematisiert. Wie ein VfB-Junge wie Timo Werner jetzt in Leipzig durchstartet, so etwas soll es in Zukunft nicht mehr geben, oder?

Schindelmeiser: Im Fall von Timo Werner finde ich es nüchtern betrachtet gar nicht so schlimm, wie es gelaufen ist. Es ist doch großartig, was der Junge in Leipzig für eine Saison spielt. Wahrscheinlich war es für ihn genau der richtige Schritt. In Stuttgart war er der Benjamin aus dem eigenen Stall, der immer als Jungendspieler wahrgenommen wurde. Jetzt blüht er in einem neuen Umfeld auf, löst sich auch vom Elternhaus und macht eine tolle Entwicklung. Wir müssen auch klar sehen, dass dem VfB unter anderem der Verkauf von Timo geholfen hat, die Einnahmeverluste zu kompensieren und die Lizenz zu bekommen. Es ist nicht so, als ob uns die Investition in die Ausbildung nichts gebracht hätte. Sie hat uns geholfen, den Klub am Leben zu halten. Wenn wir darüber sprechen, wo wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren sein wollen, dann setzen wir natürlich den Fokus auf unsere eigenen Jungs aus der Region. Wir wollen Jungs aus Stuttgart ausbilden und in die erste Mannschaft hochbringen, am liebsten aus Bad Cannstatt. Darauf ist alles ausgerichtet, das ist das herausragende Ziel. Marc Kienle, der in meinem Ressort für das Nachwuchsleistungszentrum zuständig ist, ist der Interessenvertreter dieser Jungs und muss dafür kämpfen, dass wir nur Spieler von außen holen, wenn diese klar besser sind als unsere eigenen Talente.

SPOX: Aktuell tut sich der VfB im Nachwuchs aber etwas schwerer, die U19 hat gerade mal so den Klassenerhalt geschafft.

Schindelmeiser: Es stimmt, dass die Pipeline aktuell nicht so prall gefüllt ist. Aber auch das ist völlig normal, diese Wellen durchlebt jeder Klub. Wenn man sich die Kader in der Bundesliga und 2. Liga anschaut, dann stellt man fest, dass der VfB der Verein ist, der im Vergleich die meisten Spieler ausgebildet hat. Das spricht für die Qualität der Ausbildung. Bei der Zertifizierung haben wir zudem auch wieder drei Sterne bekommen. Das heißt nicht, dass wir keine Probleme haben. Durch die negative Entwicklung hat auch die Kraft im Nachwuchs nachgelassen. Die Mittel standen nicht mehr so zur Verfügung, außerdem haben den Verein Leute verlassen, die diesen Bereich über eine lange Zeit geprägt haben. Das mussten wir erstmal kompensieren. Jetzt ist das Gebilde aber wieder stabil. Was fehlt, sind die infrastrukturellen Mittel, um wieder auf ein konkurrenzfähiges Niveau zu kommen. Insbesondere bei den renovierungsbedürftigen Plätzen haben wir großen Nachholbedarf im Vergleich zu den Vereinen, die in den vergangenen Jahren neue Zentren errichtet haben. Die Bagger stehen in den Startlöchern, wir müssen sie jetzt nur in Bewegung setzen.