SPOX: Herr Dr. Brack, wie erwartet müssen Sie mit Balingen-Weilstetten wieder um den Klassenerhalt kämpfen. Warum bleibt der HBW zum vierten Mal in Folge im Oberhaus?
Dr. Rolf Brack: Wir haben uns bisher immer aus kritischen Situationen befreit, in dem wir uns gegen Ende einer Saison gesteigert haben.
SPOX: Mithelfen sollen Ihre ungewöhnlichen taktischen Raffinessen. Zum Beispiel lassen Sie gerne mit einem fliegenden Torhüter spielen. Warum?
Brack: Das Spiel mit einem siebten Feldspieler ist in meiner Philosophie ein prägendes Element. Wir versuchen dadurch, denselben Vorteil wie beim Sechs gegen Fünf zu erzielen.
SPOX: Sie nehmen aber manchmal auch den Keeper raus, wenn ihr Team in Unterzahl spielt...
Brack: Das stimmt. Das mache ich aufgrund einer statistisch belegten Erfahrung. In Unterzahl schießen wir nur in jedem fünften Angriff ein Tor. Nach Angriffen ohne Torerfolg kassieren wir aber zu über 50 Prozent ein Gegentor. Wenn ich aber in Unterzahl den Torhüter rausnehme, und dadurch im Angriff Sechs gegen Sechs spiele, dann schießen wir zu weit über 50 Prozent ein Tor. Zudem ist es so, dass wir selbst mit Torhüter, obwohl wir einen guten Keeper haben, beim Tempogegenstoß in Eins-Eins-Situationen zu 80 Prozent einen Treffer kassieren.
SPOX: Bei einem Ballverlust bekommt man den Ball dann aber ins leere Tor - zu fast 100 Prozent.
Brack: Richtig. Das führt in Auswärtsspielen zu Hohn und Spott. Selbst unser eigenes Publikum sieht das nicht gerne. Aber ich bin kein Politiker und brauche mich nicht um populäre Maßnahmen zu kümmern. Ich mache das, was die größte Erfolgswahrscheinlichkeit hat. Auch mit dem Risiko, dass mich, wenn es schief geht, der ein oder andere Zuschauer am liebsten erschießen würde.
SPOX: Wie gehen die Spieler damit um?
Brack: Man muss die Mannschaft auf das Spiel ohne Torhüter nicht nur taktisch, sondern auch mental einstellen. Dann kann man teilweise 15 bis 20 Angriffe pro Partie mit dieser Taktik spielen. Und wir haben damit schon fantastische Quoten erreicht. Diese mutigere Variante hat in der Vergangenheit zum Klassenerhalt beigetragen.
SPOX: Genau wie Ihre spezielle Deckung?
Brack: Da haben wir ein System, dass so in der Bundesliga keine andere Mannschaft spielt. Das bezeichnet man als die jugoslawische, offensiv-aggressive 3-2-1-Deckung. Das zu erläutern, würde aber viel zu weit gehen.
SPOX: Sind diese etwas "verrückten" Taktiken die einzige Möglichkeit, um einen kleinen Klub im Oberhaus zu halten?
Brack: Es geht nicht nur um Taktik. Wir versuchen beim HBW trainingsmethodisch auf mittelfristige Sicht aus durchschnittlichen Spielern konkurrenzfähige Bundesligaspieler zu machen. Würden wir das nicht schaffen, hätten wir mit unseren wirtschaftlichen Mitteln die Klasse bisher nicht halten können.
SPOX: In dieser Saison ist es dem HBW gelungen, den THW Kiel zu schlagen. Wie haben Sie das denn angestellt?
Brack: Das war ein Wunder, für das ich keine Erklärung habe.
SPOX: Da hatten Sie doch sicher auch etwas ausgetüftelt, oder?
Brack (lacht): Nein, da war kein genialer Schachzug im Spiel. Da hat sich die Mannschaft einfach in einen Rausch gespielt. Moment: Da fällt mir doch noch etwas ein...
SPOX: Ja, bitte.
Brack: Als es kurz vor Schluss unentschieden stand, habe ich den Torhüter rausgenommen. Kurioserweise begleitet von Pfiffen des eigenen Publikums. Die dachten: "Jetzt ist der da unten völlig verrückt geworden." Dann haben wir das letztlich entscheidende Tor gemacht.
SPOX: Sie sind mittlerweile ein geschätzter Trainer bei den meisten Handball-Experten. Manche bezeichnen Sie aber auch als "Besserwisser". Das erinnert ein wenig an Ralf Rangnick.
Brack: Ralf Rangnick hat von 1979 bis 1984 bei mir studiert.
SPOX: Daher die Ähnlichkeit. Was haben Sie ihm beigebracht?
Brack: Er hat bei mir eine Ausbildung in Basketball und Handball gemacht. Damals ging es unter anderem um die Raumdeckung, die eigentlich in allen Mannschaftssportarten Vorteile mitsichbringt. Gerade im Fußball spielte sie noch eine untergeordnete Rolle.
SPOX: Also wurde Rangnick wegen eines "Handball-Professors" zum "Fußball-Professor"?
Brack: So weit würde ich nun wirklich nicht gehen. Aber zurück zum Besserwisser. Ich glaube, dass Wissenschaftler generell Gefahr laufen, so betitelt zu werden, weil sie oft ins Detail gehen.
SPOX: Sie haben mit dem TSV Scharnhausen, SG Göppingen-Scharnhausen, VfL Pfullingen und eben Balingen-Weilstetten vier kleine Klubs in die Bundesliga geführt. Was ist Ihr Erfolgsrezept?
Brack: Ich sage immer: Trainer-Expertise schießt auch Tore - nicht nur Geld. Und Expertise heißt, nicht nur viel zu wissen, sondern auch viel zu können. Da spielt dann auch die Erfahrung eine wichtige Rolle. Mittelfristig ist Erfolg beeinflussbar.
SPOX: Sie sprechen die Erfahrung an. Die hatten Sie als gerade 29-jähriger Coach vom Oberligisten Zuffenhausen nicht. Wie lief es am Anfang Ihrer Karriere?
Brack: Da sollte ich nach sieben Spielen entlassen werden. Dann hat die Mannschaft gedroht, geschlossen aus dem Verein auszutreten. Aber das hat die Meinung des Klubs noch nicht geändert. Erst als ich gesagt habe, dass ich das Geld, was ich vom Klub bekommen habe, bei einem Abstieg komplett zurückzahle, durfte ich weitermachen.
SPOX: Und?
Brack: Am letzten Spieltag haben wir mit einem Tor gewonnen und dadurch die Klasse gehalten.
SPOX: Zurück zur Wissenschaft. Kann man damit alleine als Trainer Erfolg haben?
Brack: Nein. Theorie und Praxis liegt nirgendwo so weit auseinander wie im Sport. Sie würden sich auch von niemandem operieren lassen, nur weil derjenige ein Medizinstudium hinter sich hat. Wie man es anstellt, dass die Mannschaft pünktlich zum Spiel erfolgreich ist, kann man nicht wie ein Kochrezept aus der Schublade ziehen. Da spielen viele Faktoren eine Rolle, wie Psychologie.
SPOX: Arbeiten Sie immer mit den modernsten wissenschaftlichen Methoden im Training?
Brack: Wichtig ist, dass man immer weiter lernt. Was heute richtig ist, kann morgen schon wieder falsch sein. Wahrheiten müssen ersetzt werden. Bei manchen Trainerkollegen ist das nicht der Fall. Wenn die Erfolg hatten, dann denken sie, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen und bleiben stehen.
SPOX: Demnach hat Balingen alles richtig gemacht, in dem Ihr Vertrag um zwei Jahre verlängert wurde. Obwohl es vor ein paar Monaten Differenzen zwischen Ihnen und der Klubführung gab. Was hat sich seither getan?
Brack: Es gab tatsächlich Differenzen. Aber weder ich noch die Klubführung waren nachtragend.
SPOX: Es hat Sie geärgert, dass der Vertrag mit Ihrem Sohn Daniel, der jetzt in Hannover spielt, nicht verlängert wurde.
Brack: Aber weniger aus familiären Gründen, sondern weil er unser effektivster Spieler war.
SPOX: Sie sind nicht nur Dozent und Trainer, sondern auch Mitglied der Bundeslehrkommission des DHB. Mit welchen Aufgaben?
Brack: Ich vermittle ca. 30 Prozent der Inhalte, die man für die Trainerausbildung braucht, um die A-Lizenz zu bekommen. Das beinhaltet Kondition, Technik und Taktik.
SPOX: Machen wir einen Sprung zum Thema Bundestrainer. Heiner Brand beschwert sich, dass zu wenige deutsche Spieler bei Topklubs auf Schlüsselpositionen spielen. Hat er Recht?
Brack: Die Bundesliga ist die stärkste Liga der Welt, von daher ist es schwer, diese Forderung zu erfüllen. Die deutsche Nationalmannschaft muss dennoch immer das Ziel haben, um die Medaillenplätze mitzuspielen. Weil ich der Meinung bin, dass der internationale Handball vor allem in der Breite schwächer geworden ist.
SPOX: Dennoch hatte man bei der EM den Eindruck, dass die Qualität teilweise nicht ausreicht.
Brack: Zum einen muss man schauen, ob man mit der aktuellen Mannschaft nicht etwas anderes spielen muss als mit der Generation Baur, Schwarzer oder Stephan. Zum anderen muss man sehen, dass derzeit ein Generationswechsel vollzogen wird. Da fehlt eben ein wenig internationale Erfahrung.
SPOX: Kritik am Bundestrainer?
Brack: Nein. Aber als Trainer muss man sich immer hinterfragen. Für alle gilt: Man kann nicht immer über gute Gegner und schlechte eigene Spieler reden. Man muss schauen, was man für Schlüsse - in diesem Fall aus der EM - ziehen kann. Genau das macht Heiner Brand, wie man bei der neuesten Nominierung sehen kann.
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