"Ich schaue neidisch zu Jogi Löw"

Florian Regelmann
19. Mai 201018:37
Heiner Brands Vertrag beim DHB läuft noch bis 2013 Getty
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Der Countdown zum Super-Clash zwischen Hamburg und Kiel läuft - die Meisterschaft wird aller Voraussicht nach am Wochenende in einem echten Endspiel entschieden. SPOX hat Bundestrainer Heiner Brand gefragt, wie er die beiden Top-Teams einschätzt. Außerdem spricht Brand im Interview über die Lehren aus der EM und er erklärt, warum er Jogi Löw so beneidet.

SPOX: Herr Brand, Joachim Löw hat vor kurzem seinen vorläufigen WM-Kader bekannt gegeben. Er hatte dabei sicher einige schwierige Entscheidungen zu treffen. Wie groß ist der Pool, aus dem Sie auswählen können?

Heiner Brand: Die Auswahl hält sich sicherlich in Grenzen. Deshalb schaue ich auch manchmal sehr neidisch zu Jogi Löw hinüber. Der Fußball ist wesentlich weiter und schlauer als wir. Ich habe mir mal die Altersstruktur des DFB-Kaders angeschaut - da sind mir fast die Tränen gekommen. Es gibt so viele Spieler zwischen Jahrgang 1987 und 1990, die alle auch in der Bundesliga schon tragende Rollen übernehmen.

SPOX: Und das nicht bei Abstiegskandidaten, sondern bei den Spitzenklubs.

Brand: Genau. Über Bayern müssen wir gar nicht reden. Schweinsteiger und Lahm kamen aus dem eigenen Nachwuchs, jetzt sind Badstuber und Müller tragende Größen geworden. Wenn ich dann an Bremen denke mit Özil, Bargfrede und Hunt, auch Stuttgart, Dortmund, Leverkusen und Schalke - die ersten Sechs der Tabelle haben alle hervorragende junge deutsche Spieler. Im Handball tut sich in diesem Bereich zu wenig. Es gibt zwar ein paar gute Beispiele, aber das sind alles Mannschaften, die sich im Mittelfeld befinden, nicht die Top-Teams. Der Weg, den der Fußball geht, wird sich auszahlen. Vielleicht noch nicht bei dieser WM, gerade nach dem Ausfall von Michael Ballack, aber in den nächsten Jahren sind optimale Voraussetzungen für Erfolg gegeben.

SPOX: Nun ist es ja nicht so, dass Handball-Deutschland keine Talente hätte. Die Junioren sind amtierender Weltmeister. Wann kommt einer dieser Jungs bei Ihnen im A-Team an?

Brand: Das ist die große Frage. Das große Problem im deutschen Handball ist die Anschlussförderung. Es dauert einfach zu lange, bis die Talente nach der Junioren-Zeit im Spitzen-Handball ankommen. Und es geht hierbei ja nicht nur um die von Ihnen angesprochenen Junioren-Weltmeister wie Andrej Kogut, Steffen Fäth oder Patrick Wiencek - wir haben auf einem ähnlichen Niveau noch viel mehr Spieler. Leider stürzen sich die Vereine dann immer gerne auf die Junioren-Weltmeister, um die Quote zu erfüllen, aber dabei wird die Breite vergessen. Ich war erst kürzlich wieder bei einer Jugendsichtung - wir haben im Vergleich zum Eishockey oder Basketball einen riesigen Talente-Pool, aber da muss man auch rangehen. Mein Streben ist es, dass wir wieder eine Handball-Macht werden, aber das werden wir nur schaffen, wenn sich die Vorzeichen ändern.

SPOX: Wer ist denn von den Jungs am nächsten an der Nationalmannschaft dran?

Brand: Im Augenblick ist noch niemand wirklich nahe dran. Die Jungs müssen sich alle erst mal in der Bundesliga Stammplätze erkämpfen. Patrick Wiencek muss sich in der neuen Saison in Gummersbach durchsetzen, das wird kein Selbstläufer. Steffen Fäth muss sich in Wetzlar endgültig durchbeißen. Man muss natürlich auch sagen, dass es nicht einfach ist für sie, weil die Philosophie, dass jeder Verein deutsche Spieler nach oben bringt, nicht vorhanden ist. Und wenn ein Verein diese Philosophie nicht vorgibt, dann setzt sie der Trainer auch nicht um.

SPOX: Wie viel Verständnis haben Sie für die Haltung der Vereine?

Brand: Bevor ich Bundestrainer wurde, habe ich lange Jahre in der Bundesliga gearbeitet. Ich kenne also die Mechanismen. Ich weiß, welcher wirtschaftliche Druck auf den Vereinen lastet, aber dennoch bin ich der Meinung, dass sie eine gewisse Verantwortung tragen. Viele Vereine werden dieser auch schon gerecht, es hat sich einiges getan, aber das alles macht nur Sinn, wenn eben die Anschlussförderung stimmt. Dass ein Verein sagt, dass ihn das alles nicht interessiert und er Champions League spielen muss, kann ich nicht akzeptieren. Spanien macht es uns vor, wie es geht. Die Spanier sind mit vielen eigenen Spielern im europäischen Vergleich sicher nicht schlechter als Deutschland. Beim HSV und in Kiel spielen zwar auch Deutsche, aber das sind alles Spieler, die im fortgeschrittenen Alter geholt worden sind.

SPOX: Sie sprechen den THW an: Wenn es für Kiel schlecht läuft, könnte es eine Saison ohne einzigen Titel geben. Hatten Sie erwartet, dass der THW in dieser Saison Probleme bekommen wird?

Brand: Wir sprechen hier über Probleme auf sehr hohem Niveau. Kiel hat immer noch eine sehr gute Ausgangsposition. Eine Meisterschaft kann man ohnehin nie garantieren. Und dass der Abgang von Stefan Lövgren ein großes Loch reißen würde, war klar. Für den Erfolg des THW waren immer drei Komponenten ausschlaggebend. Zum einen die überragende Abwehr mit einem starken Thierry Omeyer dahinter, dann die unglaubliche individuelle Stärke mit Spielern wie früher Karabatic oder nun Narcisse, dazu Jicha und Andersson, und drittens eben Lövgren, der das Spiel ordnen und lenken konnte. In dieser Saison haben sie nur noch zwei der drei Komponenten, dazu ist Omeyer vielleicht nicht ganz so stabil wie gewohnt. Deshalb ist es erklärbar, dass es zwischenzeitlich Probleme gab. Aber dem THW ist nach wie vor alles zuzutrauen.

SPOX: Auch der Champions-League-Sieg?

Brand: Ich denke schon. Auch wenn Barcelona in Kiel gewonnen hat und dabei keinen schlechten Eindruck hinterlassen hat, würde ich das Halbfinale gegen Ciudad als vorgezogenes Endspiel sehen.

SPOX: In der Bundesliga liefert sich der THW mit dem HSV ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Meisterschaft. Wen sehen Sie am Ende vorne?

Brand: Für mich ist das völlig offen. Ich hatte den HSV favorisiert, aber nachdem sie nach dem Hinspiel für mich sehr überraschend bei Ciudad Real in der Champions League so untergegangen sind, bin ich mir nicht mehr so sicher. Das war ein harter Rückschlag im Selbstvertrauen. Der HSV war über weite Teile der Saison spielerisch dominant, der THW hat auf der anderen Seite unheimlich Power und einen Omeyer, der in Topform den Grundstein zum Sieg in Hamburg legen kann. Es wird auf viele Kleinigkeiten ankommen - ich sehe die Chancen Fifty-fifty.

Teil 2: Heiner Brand über seine Zukunft, die deutschen Titelchancen und Mimi Kraus

SPOX: HSV-Coach Martin Schwalb, der kürzlich in einem Interview wieder einmal auf eine mögliche Nachfolge von Ihnen als Bundestrainer angesprochen wurde, meinte, dass er davon ausgeht, dass Sie Ihren bis 2013 laufenden Vertrag am Ende doch wieder verlängern würden. Hat er recht?

Brand: (lacht) Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Nach jetzigem Stand würde ich eher Nein sagen. Es ist auch nicht meine Aufgabe, mir über einen möglichen Nachfolger Gedanken zu machen, das ist Sache des DHB-Präsidiums.

SPOX: Wenn Sie noch mehr Turniere wie die letzte EM ertragen müssen, hätten viele sicher Verständnis, wenn Sie sogar früher aufhören würden. Ganz ehrlich: Wie halten Sie es auf der Bank manchmal aus, wenn Ihre Mannschaft so viele Unforced Errors macht?

Brand: Das fällt mir schon sehr schwer, weil ich eigentlich meine Mannschaften immer dahin gebracht habe, einfache Fehler abzustellen. Seit ich die Nationalmannschaft übernommen habe, sind wir damit immer gut gefahren. Diesmal war es bei der EM eine Frage der technischen Fähigkeiten einzelner Spieler, der Spielertypen generell und vor allem auch der Erfahrung. Viele Leute, die tragende Rollen bei uns spielen, haben die Erfahrung nicht, in großen Spielen in entscheidenden Spielsituationen auf dem Feld zu stehen.

Vor allem der Rückraum machte Heiner Brand bei der EM Sorgen Getty

SPOX: Viel Kritik gab es an Lars Kaufmann. Berechtigt?

Brand: Die Öffentlichkeit hat sich auf ihn fixiert, als ob nur er Fehler produziert hätte, aber das stimmte ja nicht. Unser gesamter Rückraum besteht aus Spielern, die mit hohem Risiko spielen. Die Fehlerquote war gerade im Rückraum weit verbreitet, nicht nur bei Lars Kaufmann, auch bei Mimi Kraus, Holger Glandorf oder Michael Müller. Vielleicht fehlt uns da auch ein bisschen die Mischung. Jeder ist gefordert, bei sich anzufangen und die Fehleranzahl zu reduzieren.

SPOX: Ein weiteres Problem war die mangelnde Disziplin beim Durchspielen von angesagten Spielsystemen. Ärgert Sie das am meisten?

Brand: Das ist sicher so. Ich bin ein Verfechter davon, dass man für sein Tor arbeiten muss. Gerade wir müssen uns alles herausspielen. Wenn ich einen Karabatic oder Narcisse in der Mannschaft habe wie Frankreich, dann kann ich auch mal anders spielen und schneller abschließen. Aber wir haben diese individuelle Stärke nicht in dem Maße, wir müssen für unsere Tore arbeiten.

SPOX: Ein Sieg in sechs Spielen: Hätten Sie es vor der EM für möglich gehalten, dass es so schlecht laufen könnte?

Brand: Es hätte auch anders laufen können. Wir hätten auch nach der Vorrunde ausscheiden können. Es ist schwer zu vermitteln, weil der Anspruch in Deutschland immer hoch sein wird, damit muss und kann ich leben, aber es wäre sicherlich hilfreich, wenn man realistischer an die Sache herangehen würde. Mir war bewusst, dass so eine EM passieren kann. Davon abgesehen war ich mit der Leistung nicht zufrieden, aber ob es mit einer besseren Leistung anders ausgesehen hätte, weiß man auch nicht. Wenn wir Pascal Hens und Sebastian Preiß in guter Form zurückbekommen, wenn Mimi Kraus fit ist, haben wir sicher wieder mehr Möglichkeiten. Wir haben schon gezeigt, dass es auch anders geht.

SPOX: In Österreich stand in der Endabrechnung Rang zehn zu Buche. Wo liegt Deutschland im internationalen Vergleich momentan?

Brand: Wenn Michi Müller im letzten Angriff gegen Tschechien nicht geschlafen hätte, hätten wir wahrscheinlich noch ein Tor gemacht und wären Siebter geworden. Bei der WM in Kroatien waren wir nahe am Halbfinale, davor waren wir bei der EM Vierter. Wenn man mal die Franzosen, Isländer und vielleicht noch die Kroaten, obwohl die auch nicht überzeugt haben, weglässt, sind alle anderen Teams auf einem ähnlichen Niveau. Da kann man dann auch mal ganz schnell Zehnter werden.

SPOX: Wie hoch ist dann die Chance, dass Deutschland in den nächsten Jahren mal wieder einen Titel holen kann?

Brand: Ich denke, dass Frankreich bis 2012 dominierend bleiben wird, danach werden sie Probleme bekommen, weil viele Leistungsträger in die Jahre kommen. Die Franzosen werden immer oben dabei sein, ob sie die absolute Ausnahmemannschaft darstellen werden, muss man mal sehen. Für uns wird auch entscheidend sein, ob wir mal komplett in ein Turnier gehen können. Wir hatten in den vergangenen Jahren bei jedem Turnier das Problem, dass Leistungsträger ausgefallen sind. Wenn alles passt, können wir vorne angreifen, aber es kann eben auch in die andere Richtung gehen.

SPOX: Als nächstes steht die WM-Qualifikation gegen Griechenland an. Wie schätzen Sie die Ausgangslage ein?

Brand: Wir sind klarer Favorit, das müssen wir auch sein, aber es gibt keinen Grund zur kleinsten Überheblichkeit. Wir müssen seriös an die Spiele rangehen und uns das WM-Ticket erarbeiten.

SPOX: Gibt es schon eine Entscheidung, wer das Team als Kapitän aufs Feld führen wird?

Brand: Nein. Bei der letzten Maßnahme hat Pascal Hens die Binde bekommen, weil er die meisten Länderspiele gehabt hat, aber da ist noch keine Entscheidung gefallen.

SPOX: Was hat letztlich dazu geführt, dass Mimi Kraus nicht mehr Kapitän der DHB-Auswahl ist?

Brand: Mimi und ich sind uns einig, dass er nach der Kritik an ihm, teils berechtigt, teils auch nicht, jetzt erstmal alles dafür tun muss, um seine Form zu finden. Er soll sich ganz auf seine Leistung konzentrieren können und sich nicht noch Gedanken über die Mannschaft machen müssen. Es soll keine Belastung für ihn sein. Daher ist es gut für ihn, jetzt einen Neuanfang zu starten. Sportlich hat sich meine Meinung aber nicht geändert. Mimi Kraus in Topform tut jeder Mannschaft gut.

Die Tabelle der Bundesliga