Irgendwo im Untergeschoss der riesigen Tauron Arena kam einem ein kleiner Mann mit großen Gefühlen entgegen. Es war Bob Hanning, der DHB-Vizepräsident. Der 47-Jährige spazierte mit ausgestreckten Armen durch die Gegend, die Hände zu Fäusten geballt.
"Kann mir mal irgendwer die Arme runternehmen", witzelte er. Hanning stand damit sinnbildlich für alle Mitglieder des DHB-Trosses und seine Fans. Soweit das Auge reichte gab es nichts als Jubel, Trubel und Heiterkeit.
Nur zwei Tage nach dem Wahnsinn von Breslau, als Deutschland sensationell Dänemark geschlagen hatte, folgte der Thriller von Krakau. Ein Thriller, der zwischendurch kein Happy End zu nehmen schien.
Matchwinner bei der Dopingkontrolle
Erst 19 Sekunden vor dem Ablauf der regulären Spielzeit besorgte Rune Dahmke das Tor zum 27:27 und rettete Deutschland damit in die Verlängerung. In der Overtime war es der nachnominierte Kai Häfner, der fünf Sekunden vor Schluss den Siegtreffer erzielte.
Held Häfner! Der Mann, der die EM noch vor wenigen Tagen vom Sofa aus verfolgt hatte. "Kai war unglaublich", wunderte sich Hendrik Pekeler.
"Das ist das nächste Märchen, ein großer Traum. Ich kann es nicht fassen. Ich muss erst realisieren, dass wir im Finale stehen", erklärte Häfner und schilderte die Schlussphase a la Hitchcock so: "Ich hatte den Ball in der Hand und dachte mir: Jetzt müssen wir irgendwie noch ein Tor machen. Zum Glück hat das noch funktioniert."
Ausgerechnet der rechte Rückraumspieler der TSV Hannover-Burgdorf wurde anschließend zur Dopingkontrolle gebeten. "Das war schon ziemlich nervig nach so einem Spiel. Ich saß da eine Stunde rum", meinte der 26-Jährige.
"Wer mehr Spannung braucht, ist krank"
Während Häfner das Prozedere der Kontrolleure über sich ergehen ließ, rang Dagur Sigurdsson um die richtigen Worte. "Ich kann nicht erklären, wie glücklich ich im Moment bin", sagte der Bundestrainer und fügte auf die emotionale Achterbahnfahrt angesprochen hinzu: "Wer mehr Spannung braucht, der ist, glaube ich, krank."
Der Isländer hatte eine Partie gesehen, die nicht auf allerhöchstem Niveau ausgetragen wurde. Beide Mannschaften leisteten sich dafür zu viele Fehler technischer Art oder einfach schlechte Abschlüsse.
Nichtsdestotrotz agierten Deutschland und Norwegen vom Einsatz her am absoluten Limit. Keinen Millimeter Platz gönnten sich die Kontrahenten.
Norwegen-Coach ist todtraurig
"Das war unsere bisher härteste Bewährungsprobe bei dieser EM, denn Norwegen war ein herausragender Gegner. Leider muss es auch nach einem solchen Spiel einen Verlierer geben", befand Sigurdsson.
In der Tat muss man vor dem Auftritt der Norweger nicht nur gegen das DHB-Team, sondern während der gesamten EM den Hut ziehen. Mit dem Ziel gestartet, irgendwie die Hauptrunde zu erreichen, schlugen die Skandinavier Kroatien, Polen und Frankreich und kämpfen im kleinen Finale am Sonntag erneut gegen Kroatien um Bronze.
"In meiner Brust schlagen zwei Herzen. Ich bin todtraurig über das Endergebnis, aber unglaublich stolz auf meine Spieler. Wir haben 70 Minuten alles gegeben, und es hätte genauso gut anders herum ausgehen können", sagte Norwegens Nationaltrainer Christian Berge.
Protest zurückgezogen
Vielleicht war es diese Traurigkeit, die Norwegen dazu veranlasste, nach dem Spiel Protest einzulegen. Vielleicht war es auch nur die ganz normale Reaktion auf eine Situation, wie sie sich in den allerletzten Sekunden der Verlängerung - nach Häfners Tor - abspielte.
Die deutsche Mannschaft hatte im Eifer des Gefechts sechs Feldspieler und Torhüter Andreas Wolff plus Simon Ernst im gelben Leibchen auf der Platte. Ein Wechselfehler, der eigentlich eine Zwei-Minuten-Strafe zur Folge haben hätte müssen.
"Es ist ein Fehler gemacht worden, der während des Spiels nicht geahndet wurde", begründete die norwegische Delegationsleiterin Heidi Tjugum den Schritt, Beschwerde einzulegen.
Mittlerweile haben die Norweger den Protest allerdings zurückgezogen. "Ich bin froh, dass der Unsinn ein Ende hat", sagte Hanning.
"Einfach eine geile Truppe"
Der Jubelstimmung im und rund um das DHB-Team tat der Protest jedenfalls keinen Abbruch. Von Dirk Nowitzki ("Fiiiinaaaale") über Mario Gomez ("Jaaaaaaaaaaaaaaaaaooooooooooooohhhhhhhhh!!!! Was für ein geiles Spiel!!!") bis zu Benedikt Höwedes ("Finale! Heute sind wir Handballnation!") feierte die Sportprominenz die deutsche Mannschaft.
Storify zum Einzug des DHB-Teams ins EM-Finale
"Wir sind einfach eine geile Truppe. Der wichtigste Grund, warum wir so gut sind und ins Finale eingezogen sind, ist unser Teamgeist, jeder kämpft für den anderen. Unglaublich, wie diese Mannschaft zusammensteht", brachte es Torhüter Carsten Lichtlein auf den Punkt.
Trotzdem ragten gegen Norwegen natürlich auch Einzelne heraus. Siegtorschütze Häfner brachte es wie der mit ihm nachnominierte Julius Kühn auf fünf Treffer.
Reichmann, der Alles-Treffer
Noch erfolgreicher war Tobias Reichmann, der zehn Tore erzielte (darunter sieben Siebenmeter) und sich nicht einen einzigen Fehlwurf erlaubte. Allerdings kam es auch dem Rechtsaußen nicht in den Sinn, sich selbst zu feiern.
"Es war eine riesige Mannschaftsleistung, es geht nicht um mich oder um meine Tore. Wir können alle zusammen unglaublich stolz auf dieses Spiel sein", stellte der Kielce-Profi klar.
Und weil diese von Verletzungen gebeutelte, aber nicht unterzukriegende Mannschaft bei der EM in Polen nicht nur sich, sondern einen Großteil der Nation stolz gemacht hat, soll sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland gebührend mit den alten und neugewonnenen Anhängern feiern.
Fan-Party steigt in Berlin
"Was unsere Nationalspieler, Bundestrainer Dagur Sigurdsson und das gesamte Team in den letzten Wochen geleistet haben, ist fantastisch", sagt DHB-Präsident Andreas Michelmann. "Diese Nationalmannschaft hat in kurzer Zeit die Herzen so vieler Menschen erobert. Jetzt ist es an der Zeit, Danke zu sagen. Das werden wir am Montag mit einem frei zugänglichen Fanfest in Berlin tun, zu dem wir schon jetzt einladen."
Die Party wird um 15 Uhr in der Berliner Max-Schmeling-Halle steigen. Die deutsche Delegation wird Krakau am Montagmittag um 13 Uhr mit einem Charterflug verlassen und um 14.20 Uhr in Berlin-Tegel landen.
Vorher hat sie allerdings noch eine Aufgabe zu erledigen. Im Finale geht es ausgerechnet gegen Spanien. Also gegen das Team, das Deutschland gleich zum Auftakt die erste und bisher einzige Niederlage beigebracht hat.
Es könnte kein runderes Ende für dieses Handball-Märchen geben, als zum Abschluss auch die Iberer zu schlagen - womöglich noch nach dem x-ten Krimi - und dann mit dem ersten großen Titel seit dem WM-Sieg 2007 und als feststehender Olympia-Teilnehmer nach Berlin zu reisen.
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