Die Spieler lagen sich in den Armen, aus den Boxen der Hala Stulecia ballerte der Hosen-Song "Zehn kleine Jägermeister". Es war kaum zwei Minuten her, da hätte wohl jeder deutsche Fan gerne auf einen hochprozentigen Kurzen zurückgegriffen.
Finn Lemke spazierte alleine auf weiter Flur auf den schwedischen Kasten zu. Anstatt mit dem 28:26 alles klar zu machen, feuerte der Magdeburger den Ball deutlich drüber - es herrschte akute Herzinfarktgefahr. Glücklicherweise überstanden die deutschen den letzten schwedischen Angriff.
Es war ein würdiges Ende eines dramatischen Spiels, das für das DHB-Team zur Pause fast schon verloren war. Die Truppe von Bundestrainer Dagur Sigurdsson lag nach einer indiskutablen Abwehrleistung ohne jegliche Aggressivität mit 13:17 zurück.
"Weg mit dem Röckchen"
"Weg mit dem Röckchen, her mit der Härte", beschrieb DHB-Vizepräsident Bob Hanning anschließend in der Mixed Zone den Hauptgrund für die Wende zum Guten aus deutscher Sicht. Was der Macher der Füchse Berlin meinte: Von der ersten Sekunde der zweiten Hälfte an langte die DHB-Deckung entschlossen hin, tat den Schweden weh und provozierte Ballverluste.
"Wir haben dann keine Lösungen mehr gegen die nun stärkere deutsche Abwehr gefunden", bestätigte Ola Lindgren, der gemeinsam mit Staffan Olsson die schwedische Nationalmannschaft trainiert.
Dadurch fiel Deutschland auch im Angriff vieles leichter. Angeführt vom plötzlich auftrumpfenden Kapitän Steffen Weinhold, der alle seine fünf Tore in der zweiten Halbzeit erzielte, gelang bis zur 45. Minute ein 11:3-Lauf. Einen großen Teil des Rests erledigte Andreas Wolff.
Wolff glänzt und bleibt bescheiden
"Er war unser Matchwinner", sagte Sigurdsson über den 24-Jährigen von der HSG Wetzlar, der nach nicht einmal zehn Minuten für den erneut unglücklich agierenden Carsten Lichtlein kam und sich immer mehr in die Köpfe der Skandinavier hineinbiss.
Seine Ausbeute: 13 von 31 gehaltene Würfe, darunter ein Siebenmeter, das macht eine bockstarke Quote von 42 Prozent. "Was man in solchen Spielen braucht, sind Emotionen. Ich habe versucht, Signale von hinten zu senden. Die Freude ist groß, jetzt kehrt eine gewisse Erleichterung ein", meinte Wolff, der auch offiziell zum Spieler des Spiels gewählt wurde.
Wolff, der sich im Sommer dem THW Kiel anschließt, blieb trotz seiner Galavorstellung angenehm bescheiden. Ob er nun erwarte, am Mittwoch gegen Slowenien von Beginn an zwischen den Pfosten zu stehen, wurde er gefragt.
Lichtlein im SPOX-Interview: "Zieh mein Ding durch wie immer"
"Nein", antwortete Wolff: "Carsten Lichtlein hat so viel für die Nationalmannschaft geleistet. Das wischt man nicht mit zwei guten Auftritten weg. Er steht nach wie vor in der Hackordnung vor mir."
Reichmann beweist Mut
Selbstverständlich wusste Wolff einzuschätzen, dass der Sieg nicht nur auf sein Konto ging. Der Erfolg hatte mehrere Väter. Neben einer geschlossenen Mannschaftsleistung ragte dabei beispielsweise Tobias Reichmann heraus.
Der Rechtsaußen, der beim polnischen Spitzenklub Kielce sein Geld verdient, war gerade in der ersten Halbzeit der Garant dafür, dass Deutschland überhaupt im Rennen blieb. Er erzielte sechs der ersten zwölf deutschen Tore, war am Ende mit neun Treffern Topscorer der Partie.
Der 27-Jährige übernahm selbst dann Verantwortung, als er einen Siebenmeter verworfen hatte und machte den nächsten Strafwurf wieder rein. Fünf von sechs Siebenmetern versenkte er in den Maschen.
"Es war ein ganz enger, schwerer und harter Kampf, bis der erste Sieg eingefahren war. Wir haben besser gespielt als gegen Spanien, aber am Ende war es das nötige Glück, das man benötigt, wenn man solche Spiele gewinnen will", erklärte Reichmann.
Remis reicht zum Weiterkommen
Gewinnen muss die deutsche Mannschaft das abschließende Gruppenspiel gegen Slowenien, das am zweiten Spieltag einen Sieg gegen Spanien leichtfertig aus der Hand gab und sich mit einem Punkt zufrieden geben musste, nicht unbedingt, um in die Hauptrunde einzuziehen. Schon ein Remis würde definitiv reichen.
Roundup: Alle Spiele, alle Gruppen, alle Topscorer
Selbst eine Niederlage würde das Weiterkommen bedeuten, so lange Schweden gegen Spanien leer ausgeht. Um ganz sicher in die Hauptrunde einzuziehen und sogar zwei Punkte mitzunehmen, wäre ein Sieg aber die beste Variante.
Das wird schwer genug. "Wir können uns nicht darauf verlassen, dass wir auch gegen die Slowenen eine Leistung wie in der zweiten Halbzeit gegen Schweden abliefern. Wir müssen von Beginn an über unsere Leistungsgrenze hinausgehen", stellte Wolff klar.
Ob das DHB-Team dabei wieder einem Rückstand hinterherlaufen muss, wäre dem Torhüter im Zweifelsfall egal: "Natürlich wollen wir das verhindern. Wenn wir am Ende aber trotzdem mit einem Tor Vorsprung gewinnen, können wir von mir aus zwischenzeitlich auch mit zehn Toren zurückliegen."
Alles zur EM 2016