Rote Karte im Auftaktspiel gegen die Niederlande, in den ersten beiden Partien vier von sieben Siebenmetern verworfen, eine Gesamttrefferquote von schwachen 54,5 Prozent, gegen Spanien in der zweiten Halbzeit für den unerfahrenen Patrick Zieker auf die Bank abgeschoben: Für Uwe Gensheimer läuft es bei der EM 2020 bislang alles andere als rund.
Wie so oft in den vergangenen Jahren steht der Kapitän im Zentrum der Kritik. "Was ist mit Gensheimer los?", "Gensheimer völlig von der Rolle!" oder "Kapitän ohne Kurs: Gensheimer gibt Rätsel auf!" sind die bestimmenden Schlagzeilen rund um die deutsche Nationalmannschaft.
Der 33-Jährige von den Rhein-Neckar Löwen sei einfach kein Anführer, kein Kapitän, sagen seine Kritiker seit Jahren. Und überhaupt: Gensheimer, nach Einschätzung zahlreicher Experten eigentlich der beste Linksaußen der Welt, sei einfach nicht in der Lage, im Nationaltrikot die gleichen Leistungen wie im Verein abzuliefern.
"Das ist ein Phänomen", sagte Pascal Hens im Kretzsche-Talk auf den angeblichen Leistungsabfall des Mannheimers angesprochen, sobald dieser für Deutschland spielt. Gastgeber Stefan Kretzschmar meinte dazu: "Ich habe es in der Vergangenheit schon einmal gesagt und ich sage es wieder: Ich glaube, dass Uwe die Kapitänsbinde hemmt. Er ist ein Freigeist, ein Künstler, der auf dem Spielfeld machen können muss, was er will - ohne permanent noch den Laden zusammenhalten zu müssen. Er macht sich zu viele Gedanken."
Uwe Gensheimer: So liefen seine Turniere als Kapitän
Aber stimmt es tatsächlich, dass Gensheimer, der mit 1021 Treffern einer der besten Torschützen der DHB-Historie ist, für das Nationalteam regelmäßig schwach spielt? Ist es wahr, dass er in alles entscheidenden Partien abtaucht? SPOX hat die fünf Turniere, in denen er bislang Kapitän war, unter die Lupe genommen.
WM 2015 in Katar: Gensheimer geht bei seinem ersten Turnier als Kapitän in der Wüste von Doha beeindruckend vorneweg. Er übernimmt sofort Verantwortung, ist am Ende mit 54 Toren (Trefferquote 75 Prozent, durchschnittlich 6 Tore pro Partie) bester DHB-Werfer und drittbester Torschütze der gesamten Weltmeisterschaft. Auch in den beiden K.o.-Duellen im Achtelfinale gegen Ägypten und beim Aus im Viertelfinale gegen Katar überzeugt er und erzielt jeweils die meisten Buden für die Auswahl des damaligen Bundestrainers Dagur Sigurdsson. Bitter: Gegen Katar verwirft er einen ganz wichtigen Siebenmeter. Dennoch ist es unter dem Strich eine starke Performance von Gensheimer. SPOX-Note im Abschlusszeugnis: 1,5.
Olympische Spiele 2016 in Rio de Janeiro: Gensheimer muss beim EM-Coup in Polen verletzt passen, im Sommer darauf spielt er am Zuckerhut allerdings groß auf. Mit 49 Treffern (79 Prozent, 6,1 Tore pro Partie) ist er bester DHB-Schütze und belegt im Gesamtranking der Topscorer erneut Rang drei. Als bester Olympia-Linksaußen wird er ins All-Star-Team gewählt. Bei der Niederlage im Halbfinale gegen Frankreich trägt Gensheimer das Team über weite Strecken und erzielt herausragende elf Tore. Im Spiel um Bronze beim Sieg gegen Polen überzeugt er mit sechs Treffern. SPOX-Note im Abschlusszeugnis: 1,5.
WM 2017 in Frankreich: Fünf Tage vor dem WM-Start stirbt unerwartet Gensheimers Vater. Trotzdem fährt der Capitano nach Rouen und stellt sich unter diesen schrecklichen Umständen in den Dienst der Mannschaft. Im Auftaktspiel gegen Ungarn versenkt Gensheimer 13 von 15 Würfen. "Einfach großartig", sagt Sigurdsson anschließend mit Tränen in den Augen. Danach läuft es für den Linksaußen nicht mehr so gut. Mit 33 Toren (87 Prozent, 5,5 Tore pro Partie) ist er aber erneut bester deutscher Werfer, er versenkt 20 von 21 Siebenmetern. Beim Aus im Achtelfinale gegen Katar geht bei Gensheimer nichts, er bleibt ohne Treffer. SPOX-Note im Abschlusszeugnis: 2,5.
EM 2018 in Kroatien: Zwischen dem Team und dem neuen Bundestrainer Christian Prokop passt es nicht. Gensheimer hinterlässt erstmals als Kapitän einen schlechten Eindruck. Er wirkt teilnahmslos, taucht regelrecht ab. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass er mit 27 Buden (69 Prozent, 4,5 Tore pro Spiel) einmal mehr bester DHB-Torschütze ist. Beim Aus im letzten Hauptrundenspiel gegen Spanien trifft er zweimal, zeigt alles in allem aber viel zu wenig. SPOX-Note im Abschlusszeugnis: 5.
WM 2019 in Deutschland und Dänemark: Gensheimer ist im Vergleich zur EM im Jahr zuvor ein anderer Mensch. Er wird seiner Rolle als Kapitän wieder gerecht, seine Ausstrahlung ist absolut positiv. Und sportlich läuft es auch: Mit 56 Toren (75 Prozent, 5,6 Tore pro Partie) ist der Badener schon wieder der treffsicherste deutsche Spieler. Auch dass Deutschland im Halbfinale deutlich an Norwegen scheitert und anschließend gegen Frankreich Bronze verspielt, liegt keinesfalls an Gensheimer. Gegen Norwegen versenkt er sieben seiner acht Würfe, gegen Frankreich sind es sieben von neun. SPOX-Note im Abschlusszeugnis: 1,5.
Fazit: Bei drei von fünf Turnieren als DHB-Kapitän hat Gensheimer sehr starke Leistungen gezeigt. Bei der WM in Frankreich war seine Performance vor allem aufgrund der hochkomplizierten persönlichen Situation ebenfalls mehr als ordentlich. Lediglich bei der EM in Kroatien hat Gensheimer enttäuscht. Die pauschale Kritik, Gensheimer würde im DHB-Trikot keine konstant starken Leistungen abliefern und als Kapitän grundsätzlich nicht funktionieren, ist somit Quatsch.
Die negative Wahrnehmung im Fall Gensheimer hängt extrem damit zusammen, dass er eben ausgerechnet beim einzigen Titelgewinn in der jüngeren Vergangenheit bei der EM 2016 in Polen nicht dabei war. Außerdem fokussiert sich grundsätzlich sehr viel auf ihn, da es im DHB-Rückraum keinen Star gibt, dem man bei Niederlagen die Hauptverantwortung zuschieben könnte.
Handball-EM: Die Tabelle der Gruppe C
Position | Team | Spiele | Siege | Niederlagen | Tore | Differenz | Punkte |
1 | Spanien | 2 | 2 | 0 | 66:48 | 18 | 4:0 |
2 | Deutschland | 2 | 1 | 1 | 60:56 | 4 | 2:2 |
3 | Niederlande | 2 | 1 | 1 | 55:58 | -3 | 2:2 |
4 | Lettland | 2 | 0 | 2 | 46:65 | -19 | 0:4 |
Prokop: "Gensheimer mit seiner Rolle nicht überfordert"
Nun bleibt abzuwarten, wie Gensheimer die EM in Norwegen, Schweden und Österreich über die Bühne bekommt. Fakt ist: Der dreimalige Champions-League-Torschützenkönig, dreimalige französische Meister und einmalige deutsche Meister, der seit zehn Jahren Leistungsträger im DHB-Team ist, wartet noch immer auf seinen ersten großen Titel mit der Nationalmannschaft.
"Ich glaube nicht, dass er mit seiner Rolle überfordert ist. Aber er spielt im Moment von der Chancenverwertung nicht optimal. Er macht sich persönlich sicher viel Druck, weil er natürlich erfolgreich für die Mannschaft vorneweg gehen möchte. Aber er ist ein Weltklasse-Spieler. Die bisherigen Spiele werden abgehakt, er kann super Handball spielen, da wird das nächste Spiel genommen und nicht lange nachgekartet", sagte Bundestrainer Prokop.