Ein Tor nach starker Einzelaktion, zwei geniale Assists und zwei ganz bittere Fehlpässe, die letztlich mit dafür verantwortlich waren, dass Deutschland das Spiel gegen Spanien in der zweiten Halbzeit trotz einer Drei-Tore-Führung wieder aus dem Ruder gelaufen ist: Noch geben sich im Spiel von Juri Knorr Genie und Wahnsinn die Klinke in die Hand.
"Juri, das war sehr gut. Nur diese zwei, drei Pässe waren zu riskant", sagte Bundestrainer Alfred Gislason in der Auszeit nach dem nur sechs Minuten und fünf Sekunden dauernden, dafür aber umso intensiveren Auftritt des 20-Jährigen im linken Rückraum.
Dass Gislason in der entscheidenden Phase eines entscheidenden Spiels auf den jungen Spielmacher von GWD Minden zurückgriff, ist als dickes Ausrufezeichen zu werten. Der Isländer weiß um die enormen Qualitäten des gebürtigen Flensburgers.
Mehr noch: Knorr ist eine Art Versprechen für die Zukunft. Einer, der alles mitbringt, um die seit vielen Jahren vor und während jedem großen Turnier der Nationalmannschaft aufkommende Diskussion um eine fehlende führende Hand im Rückraum zu beenden.
Juri Knorr: Als Fußballer beim HSV mit Fiete Arp
"Das war der Start einer sehr wichtigen Karriere für Deutschland", hatte Gislason, sonst kein Freund großer Lobeshymnen, bereits im November nach Knorrs DHB-Debüt in der EM-Quali gegen Bosnien-Herzegowina gesagt: "Juri hat sich sehr gut entwickelt, auch körperlich richtig zugelegt. Er könnte in Zukunft endlich mal wieder ein klassischer, aber gleichzeitig moderner Spielmacher für Deutschland sein."
Kapitän Uwe Gensheimer pflichtete dem Isländer bei: "Er hat alles, was es braucht. Alle technischen Voraussetzungen, das Auge für seine Mitspieler, er ist selbst torgefährlich und explosiv. Diese Mischung haben nicht viele Spieler."
Dabei wäre Knorr beinahe ein Fall für den DFB statt den DHB geworden. Als Zwölfjähriger schnupperte er an einer Karriere als Fußballer, zeigte in der Jugend des Hamburger SV unter anderem an der Seite von Fiete Arp (mittlerweile beim FC Bayern unter Vertrag) vielversprechende Ansätze.
"Absolut", antwortete Juris Vater Thomas, selbst 83-maliger deutscher Handball-Nationalspieler, dem NDR auf die Frage, ob auch eine Profi-Laufbahn mit dem Leder am Fuß möglich gewesen wäre: "Er hat für beide Sachen sehr viel Talent mitbekommen. Es gab Anfragen von anderen großen Vereinen."
Juri Knorr: Das Abenteuer beim FC Barcelona
Glücklicherweise entschied sich Knorr letztlich doch für Handball. In der Jugend spielte der Rechtshänder für den VfL Bad Schwartau und den MTV Lübeck, ehe er bei der HSG Ostsee in der vierten Liga erste Erfahrungen im Männerbereich sammelte.
Dabei war Disziplin seit jeher ein entscheidender Wegbegleiter. Zu Schulzeiten klingelte der Wecker häufig bereits um 4 Uhr morgens. Der Grund: Nachmittags stand Handball auf dem Programm, Zeit zum Lernen wäre somit keine mehr geblieben. Der Lohn: Ein gutes Abitur.
Und natürlich der nächste Schritt zum professionellen Handballer. 2018 ging Knorr einen ungewöhnlichen Weg, wechselte zum FC Barcelona und genoss eine Ausbildung in der legendären Talentschmiede La Masia.
Knorr spielte neben wenigen Einsätzen für die Profis zwar hauptsächlich für die zweite Mannschaft der Katalanen in der zweiten Liga, trainierte aber unter Coach Xavier Pascual regelmäßig mit den großen Barca-Stars wie Raul Entrerrios, Aron Palmarsson oder Victor Tomas.
"Ich bin komplett raus aus meiner Komfortzone gegangen", sagt Knorr über sein Jahr in Spanien: "Ich musste mich komplett neu einstellen auf andere Menschen, eine andere Kultur. Davon zehre ich noch heute."
Juri Knorr von Corona "aus den Latschen geschossen"
2019 kehrte Knorr nach Deutschland zurück und spielt seither in der Bundesliga für GWD Minden. Für die Nordrhein-Westfalen kommt er in der laufenden Saison auf durchschnittlich 3,9 Tore und 2,4 Assists pro Partie.
Und das, obwohl er im November für mehrere Wochen von einer Coronainfektion mit starken Symptomen ausgebremst wurde. "Er war richtig krank, klagte auch über Schmerzen in der Brust. Es war schon erschreckend zu sehen, wie ein junger, fitter Mensch so aus den Latschen geschossen wurde", berichtete Vater Thomas.
Knorr ist längst wieder auf dem Damm und der nächste Karriereschritt ist ebenfalls bereits beschlossen. Im Sommer zieht es den 1,90-Meter-Mann, der angeblich auch vom THW Kiel umworben wurde, nach Mannheim zu den Rhein-Neckar Löwen.
Juri Knorr ist ein sensibler Typ
Dort und im DHB-Team, wohin er es als erster im Jahr 2000 oder später geborener Spieler geschafft hat, will er in den kommenden Jahren eine zentrale Rolle einnehmen. Mit seinen präzisen Pässen und ansatzlosen Würfen aus der Distanz glänzen - und irgendwann auch als Anführer.
"Vom Naturell her bin ich nämlich kein Mitläufer", stellte Knorr im Gespräch mit dem Mannheimer Morgen klar. Worte, die Gislason und die DHB-Verantwortlichen gerne hören werden.
Allerdings gilt es von DHB-Seite, mit dem Hoffnungsträger behutsam umzugehen. Knorr ist nämlich trotz seiner klaren Vorstellungen ein sensibler und nachdenklicher Typ.
"Wir alle legen große Hoffnungen in Juri", meinte DHB-Sportvorstand Axel Kromer nach dem Spiel gegen Spanien: "Aber er ist auch einer, der vom ganzen Team aufgebaut wird, weil er jemand ist, der viel über Handball und seine Leistung nachdenkt und sich selbst viel kritischer sieht, als wir das tun."
Dass Knorr seine aktuelle Lage in aller Nüchternheit einschätzen kann, bewies er mit einer Aussage unmittelbar vor der Weltmeisterschaft: "Es werden noch viele Tage kommen, an denen die Leute nicht mit mir zufrieden sind. Durch die Nominierung wurde viel Lob über mich geschüttet, was vielleicht gar nicht objektiv ist. Doch davon lasse ich mich nicht beeinflussen."
Handball-WM: Tabelle der Hauptrundengruppe I
Rang | Nation | Spiele | Differenz | Punkte |
1. | Ungarn | 3 | +33 | 6:0 |
2. | Spanien | 3 | +5 | 5:1 |
3. | Polen | 3 | +23 | 4:2 |
4. | Deutschland | 3 | +24 | 2:4 |
5. | Brasilien | 3 | -16 | 1:5 |
6. | Uruguay | 3 | -69 | 0:6 |