Fünf Punkte sind es bereits, die den VfB Stuttgart vom rettenden Ufer trennen. Immerhin nur zwei sind es zur Relegation. In elf Bundesliga-Spielen unter Bruno Labbadia holte der VfB lediglich einen Sieg und drei Unentschieden. Der dritte Abstieg in sieben Jahren droht.
Im Umfeld des Klubs war das Vertrauen gering, dass die sportliche Leitung in der jetzigen Situation eine Entscheidung treffen kann, die den Meister von 2007 wieder auf Kurs bringt. Deshalb zog der Verein am Montag die Reißleine - und präsentierte Sebastian Hoeneß als Nachfolger.
Auch der als Feuerwehrmann bekannte Labbadia konnte den Flächenbrand in Stuttgart nicht löschen. Die Gründe für das Chaos an der Mercedesstraße sind vielfältig.
VfB Stuttgart: Bruno Labbadia war der falsche Mann am falschen Ort
Mit Labbadia war die Hoffnung auf Stabilität verknüpft. Gleichwohl stand diese Entscheidung von Beginn an im Zeichen der Ideenlosigkeit. Labbadia ist kein Trainer, der zu irgendwelchen konkreten Vorstellungen einer sportlichen Leitung gepasst hat. Er ist einer, der geholt wurde, weil er unter den großen verfügbaren Namen noch am verheißungsvollsten war.
Letztendlich ist der 57-Jährige aber über einen Kader gestolpert, der nicht zu seinen Ideen passte. Labbadia steht für einen auf dem Papier simplen Fußball: viel Flügelspiel, viele lange Bälle, viel Gegenpressing. Dafür hat er bei vielen Stationen auf ein 4-3-3 zurückgegriffen. So auch beim VfB.
"Es zählt weniger, was ich möchte, sondern was die Mannschaft kann", sagte Labbadia noch bei seiner Vorstellung im Dezember: "Und was sie besonders gut kann. Das müssen wir schnell herausfinden." Anfang April ist klar, dass ihm das nicht gelungen ist. In seinem 4-3-3 gab es zu viele Rollen, die nicht zu den Spielertypen gepasst haben. So wurde Josha Vagnoman gegen Union als Rechtsaußen eingesetzt, obwohl er seine Stärken eher in tieferen Räumen hat. Auch in der Sturmspitze war Labbadia der ewig Suchende, weil er aufgrund der Verletzung von Serhou Guirassy keinen passenden Mittelstürmer fand.
Für seine Spielweise hätte er einen klassischen Wandspieler gebraucht, der lange Bälle festmachen und verteilen kann. Stattdessen setzte er aber auf Silas, der genau das nicht kann. Eine Einsicht gab es von Labbadia nicht. Kein Versuch, auf eine Doppelspitze umzustellen oder die Probleme anderweitig zu beheben. Keine Anpassungen und stets die Hoffnung, dass sich die Spieler an seine Vorgaben gewöhnen würden.
VfB Stuttgart: Kaderzusammenstellung ist dürftig
Und doch ist der Trainer in diesem Fall wohl noch das kleinste Zahnrad in der defekten VfB-Maschine. Man könnte auch sagen, dass Labbadia ein Feuerwehrmann war, der mit einer Gießkanne einen Großbrand löschen sollte. Zugutehalten kann man ihm, dass sein Team in fast keinem Spiel klar unterlegen war. Im Gegenteil: Es wurden Partien verloren, in denen man sich die besseren Möglichkeiten herausgespielt hatte. Beispielsweise beim 0:2 gegen den SV Werder Bremen, als mehrere Chancen verpasst wurden, selbst in Führung zu gehen und durch Patzer in der Defensive verlor.
Während es also einerseits berechtigt ist, Labbadia zu unterstellen, dass er nicht die besten Ideen für den Kader hatte, ist es andererseits ebenso berechtigt, die Frage zu stellen, welche Ideen überhaupt dazu passen. Stuttgart hat viele talentierte Fußballer in seinen Reihen. Darunter auch viele junge Spieler, die ihr Potenzial immer mal wieder haben aufblitzen lassen. Doch dem Team fehlt es ganz offensichtlich an Stabilität. Nicht nur aus taktischer Perspektive, sondern schon mit Blick auf die Zusammenstellung.
Im Prinzip spitzt sich in dieser Hinsicht alles auf Wataru Endo zu. Der Kapitän ist der mit Abstand beste Spieler beim VfB und soll im Mittelfeld die Fäden ziehen sowie die Mannschaftsteile zusammenhalten. Doch ein Anker reicht ganz offensichtlich nicht, um den ansonsten in weiten Teilen unreifen Kader zu stabilisieren. Es gibt keine Achse, die in schwierigen Momenten den Abwärtstrend verhindert. Dass Stuttgart die meisten engen Spiele verliert und in entscheidenden Situationen unter individuellen Fehlern leidet, ist nur begrenzt dem Trainer anzulasten. Labbadia war der dritte Trainer in dieser Saison. Die Probleme aber blieben dieselben.
Die Balance stimmt nicht und es gibt so viele unterschiedliche Spielertypen innerhalb des Teams, dass der Grat zwischen vermeintlicher Flexibilität und Planlosigkeit nur sehr schmal ist.
VfB Stuttgart: Chaos neben dem Platz
Wer allerdings auf die Geschehnisse blickt, die nicht direkt auf dem Fußballplatz stattfinden, dürfte sich über die Art und Weise der Kaderzusammenstellung kaum wundern. 2019 sollte für den VfB Stuttgart eine Art Zeitenwende werden. Ex-Präsident Wolfgang Dietrich war das Gesicht der großen Krise und der Abstiege. Interne Machtkämpfe, Uneinigkeit, Chaos - von Thomas Hitzlsperger und Claus Vogt versprach man sich bei den Schwaben die lang ersehnte Seriösität und Einigkeit in der Führungsetage.
Nicht erst jetzt, wo der abermalige Abstieg droht, ist allen klar: Das hat nicht funktioniert. Der kicker schreibt von einem "Klima der Einschüchterung auf der vereinspolitischen Ebene". Hitzlsperger ist längst nicht mehr da und auch Sven Mislintat, den der ehemalige Nationalspieler als Unterstützung für die sportliche Planung dazugeholt hatte, musste in dieser Saison gehen.
Ein offensichtlicher Grund: Uneinigkeit mit Alexander Wehrle, dem Nachfolger von Hitzlsperger. Dem 48-Jährigen wird im Umfeld des Klubs unterstellt, dass er schlicht zu wenig Ahnung von den sportlichen Abläufen habe. Wehrle studierte einst Verwaltungswissenschaft. Auch deshalb habe er sich mit Sami Khedira und Philipp Lahm zwei Berater an seine Seite geholt, die das kompensieren sollen. Auch die Installation von Christian Gentner als Leiter der Lizenzspielerabteilung wurde von ihm initiiert. Alles ohne Absprache mit Mislintat. Wehrle hatte ohnehin ein Problem damit, dass der sportliche Leiter im Frühjahr 2021 den Machtkampf zwischen Hitzlsperger und Vogt ausnutzte, um sich weitreichende Kompetenzen innerhalb des Klubs zu sichern. Auch deshalb entschied er sich dazu, die Position von Mislintat durch Gentner, Lahm und Khedira zu schwächen.
Das Vertrauensverhältnis wurde stark beschädigt. Beide waren nicht in der Lage, einen Kompromiss zu finden. Als der VfB im Oktober Pellegrino Matarazzo entlassen hatte, tobten intern bereits Machtkämpfe, sodass es kaum möglich war, eine seriöse Entscheidung für einen Nachfolger zu treffen. Letztendlich blieb Interimstrainer Michael Wimmer bis zur WM-Pause. Als Mislintat weg war, sollte mit Labbadia der Neustart beginnen.
"Der VfB ist toxisch", wird ein ehemals leitender Angestellter vom kicker zitiert. Vermutlich ist das die treffendste Zusammenfassung der Geschehnisse. Und dass all das letztendlich eben auch auf den sportlichen Bereich Auswirkungen hat, verwundert kaum. Wehrles Entscheidung für Labbadia und gegen Wimmer muss angesichts der Bilanz zwangsweise hinterfragt werden. Immerhin holte Wimmer aus sechs Partien neun Punkte. Auch bei Austria Wien kommt er mit vier Siegen und einem Remis aus sieben Spielen auf einen respektablen Punkteschnitt von 1,86.
VfB Stuttgart: Und jetzt?
Wie es mit ihm gelaufen wäre, ist schwer zu prognostizieren. Aber der komplette Austausch der sportlichen Leitung - also neben dem Trainer eben auch der Abgang von Mislintat - tat dem VfB Stuttgart ganz offensichtlich nicht gut. Jetzt hat man wieder neue Weichen gestellt. Labbadias Nachfolger Sebastian Hoeneß musste sich sicherlich genau überlegen, ob er sich diesem Umfeld und dieser sportlichen Situation stellen wollte. Im Zweifelsfall kann das rufschädigend enden.
Das Profil, das der VfB jetzt eigentlich bräuchte: Eine gesunde Mischung aus Erfahrung und der Qualität, junge Spieler schnell an ihre Leistungsgrenze zu bringen. Bringt Hoeneß - von 2020 bis 2022 Trainer der TSG Hoffenheim, davor ein Jahr Bayern II - das mit?
All das lässt diese fünf Punkte Abstand zum rettenden Ufer wirken, als wären es zehn. Und als würden nur noch fünf Spiele verbleiben. Der Fakt, dass es eben noch acht Partien sind und wenigstens der Relegationsplatz innerhalb eines Spieltags erreichbar ist, hilft. Zumindest jenen, die den VfB Stuttgart gedanklich noch nicht aufgegeben haben.