Nagelsmanns verwunderliche Kehrtwende: Kommentar zur Nachnominierung von Emre Can für den EM-Kader des DFB-Teams

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Bundestrainer Julian Nagelsmann hat für den erkrankten Aleksandar Pavlovic überraschend Routinier Emre Can nachnominiert. Die Entscheidung ist durchaus verwunderlich. Ein Kommentar.

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Dass der amtierende Nationalspieler des Jahres im Kader der deutschen Nationalmannschaft steht, sollte eigentlich ganz normal sein. Eigentlich. Emre Can gewann die Wahl aber nicht wegen seiner DFB-Leistungen im Jahr 2023 (sechs Einsätze, vier Niederlagen, kein Scorerpunkt), sondern wegen eines Aufrufs von Social-Media-Scherzbolden. Es war bezeichnend für den desolaten Zustand des DFB-Teams Ende vergangenen Jahres.

Bundestrainer Julian Nagelsmann verzichtete seit seiner Amtsübernahme im September konsequent auf den Kapitän von Borussia Dortmund, in keiner der drei Länderspielphasen nominierte er ihn. Wenig überraschend fehlte Can dann auch im vorläufigen EM-Kader. Nagelsmann sah es nicht einmal als notwendig an, den 30-Jährigen über seine Nichtberücksichtigung im persönlichen Gespräch zu informieren - was der Dortmunder anschließend sogar öffentlich kritisierte.

Umso verwunderlicher ist die nun vollzogene Kehrtwende. Sie passt nicht zu Nagelsmanns bisherigen Kader-Entscheidungen.

Im März nominierte der Bundestrainer einen revolutionären Kader des Umbruchs, des Momentums, der Harmonie. Er diente als Grundlage für das jetzige EM-Aufgebot. Früh legte sich Nagelsmann auf eine Startelf fest, die nun auch beim Eröffnungsspiel am Freitag gegen Schottland auflaufen dürfte. In der zweiten Reihe verzichtete er konsequent auf alteingesessene Nationalspieler wie Leon Goretzka, Mats Hummels, Julian Brandt oder eben auch Emre Can und nominierte stattdessen zahlreiche Neulinge.

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Pavlovic-Ersatz: Angelo Stiller wäre der logische Kandidat gewesen

Bisher ging Nagelsmanns Plan auf. Die Öffentlichkeit goutierte die Entscheidungen des Bundestrainers weitestgehend, die Stimmung in der Mannschaft soll gut sein, Reibereien sind keine bekannt. Die Testpielsiege im März gegen Frankreich und die Niederlande schürten Euphorie. Bei den beiden etwas durchwachsenen Generalproben gegen die Ukraine (0:0) und Griechenland (2:1) konnte sich die Startelf einspielen. Die Neulinge setzten unterdessen reihenweise gute Impulse von der Bank, ohne Startelf-Ansprüche zu stellen.

Wäre Nagelsmann bei seiner Marschroute geblieben, hätte er anstelle des erkrankten Pavlovic für diese Kaderstelle mit ohnehin geringer Aussicht auf Spielzeit einen anderen frischen, formstarken Neuling nominiert. Toni Kroos und Robert Andrich sind im defensiven Mittelfeld gesetzt, Pascal Groß ist die erste Alternative. In Frage gekommen wären als Pavlovic-Ersatz Grischa Prömel und Anton Stach von der TSG Hoffenheim, der logische Kandidat wäre aber Angelo Stiller vom VfB Stuttgart gewesen. Wie Stiller selbst verriet, hatte er im Frühling sogar schon Kontakt mit Nagelsmann.

Der 23-Jährige spielte mit der Überraschungsmannschaft Stuttgart eine deutlich bessere Saison als der sieben Jahre ältere Can. Auch im Vergleich mit Goretzka hob sich Can übrigens nicht ab. Beide fehlten im ursprünglichen Kader aus ähnlichen Gründen, beide sind Platzhirsche mit Anspruch auf Spielzeit und ohne Scheu, ihre Meinung öffentlich kundzutun - siehe Cans Kritik an Nagelsmanns (fehlender) persönlicher Erklärung seiner Nichtberücksichtigung. Goretzka dürfte es als weiteren Schlag ins Gesicht empfinden, dass ihm der Bundestrainer nun Can vorzog.

Verwunderlich ist aber nicht nur Nagelsmanns Entscheidung an sich, sondern auch seine Begründung: "Wir wollten noch einen Spieler im Kader haben, der viele Spiele absolviert hat und weiß, mit dem Druck umzugehen." Da fragt man sich: Warum nominierte Nagelsmann mit Pavlovic dann ursprünglich den Inbegriff der Unerfahrenheit?