Bruchlandung mit dem "kleinen Flugzeug"? Viele EM-Fragezeichen bei der Türkei

Von Daniel Buse
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Auf den ersten Blick rechtfertigt die Türkei wieder mal den Ruf als heiß gehandelter EM-Außenseiter. Auf den zweiten gibt es aber viele Fragezeichen.

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Heutzutage braucht man als halbwegs erfolgreicher Stürmer im internationalen Fußball seinen persönlichen, ganz eigenen Jubel. Lange bevor Kylian Mbappé die Arme verschränkte oder Cristiano Ronaldo die halbe Drehung beim "Siuuu"-Sprung machte, gab es Vincenzo Montella. Der Italiener traf vor allem in seiner Zeit bei der Roma regelmäßig - und breitete nach dem Torerfolg die Arme aus, um in kleinen Kurven davonzufliegen. "Il Aeroplanino", "das kleine Flugzeug", wurde er deshalb genannt.

Montellas aktive Laufbahn als Spieler ist schon seit 2008 vorbei, seitdem ist er als Coach unterwegs. Und als aktueller Nationaltrainer der Türkei steuert er nun auf sein erstes großes Turnier als Verantwortlicher an der Seitenlinie zu. Kann er mit seinem Team in Deutschland durchstarten? Oder gibt es für die Türkei wie schon bei den zwei Europameisterschaften zuvor eine Bruchlandung mit dem "kleinen Flugzeug"? Beides erscheint vor dem EM-Start möglich - weil die Vorbereitung die großen Zweifel nicht ausräumen konnte.

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Türkei qualifiziert sich als Gruppenerster

Wie es sich anfühlen kann, wenn es bei einem großen Turnier gut läuft, weiß die Türkei noch ganz genau: Bei der WM 2002 in Japan und Südkorea ging es bis ins Halbfinale, am Ende sprang der dritte Platz heraus. Und auch bei der EM 2008 in Österreich und der Schweiz war es erst die Runde der letzten Vier, in der gegen Deutschland beim dramatischen 2:3 Schluss war. Doch das ist mittlerweile 16 Jahre her. Seitdem qualifizierte sich das Land nicht mehr für eine WM - und bei den zwei EM-Teilnahmen war nach der Vorrunde Schluss. Wie es sich anfühlt, wenn der angeblich chancenreiche Außenseiter enttäuscht, wissen die Türken also auch noch ganz genau.

Mit den beiden schnellen Abschieden der Jahre 2016 und 2021 wollte sich Trainer Montella aber nicht mehr allzu lange beschäftigen. Stattdessen hob er das Positive hervor: "Zum ersten Mal sind wir Gruppenerster in der Quali geworden und damit zum dritten Mal in Folge bei diesem Turnier mit dabei", sagte er auf dem YouTube-Kanal des türkischen Fußballverbandes. Für das Beschaffen des "Flug-Tickets" nach Deutschland und die kleine EM-Serie können sich die Türken aber nun nichts mehr kaufen. Jetzt zählt nur noch das, was das Team beim Turnier abliefert - und vorher gibt es neben hoffnungsvollen Ansätzen auch dicke Fragezeichen.

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Vorne gibt es frischen Wind, hinten fehlt die Konsequenz

Da sind zuallererst einmal die Ergebnisse: Die deutschen Fans werden sich nur an das 2:3 des DFB-Teams im gefühlten Auswärtsspiel in Berlin unter Neu-Bundestrainer Julian Nagelsmann im November 2023 erinnern. Die türkischen Fans haben dieses Spiel und das Ergebnis natürlich gefeiert - aber auch die anderen Partien und Resultate erlebt. Der Sieg gegen Deutschland war der einzige in den vergangenen sechs Spielen. Ein respektables 0:0 gegen Italien gab es noch und ansonsten nur Niederlagen. So wie beim desaströsen 1:6 in Österreich. So wie auch am Montag beim 1:2 in Polen bei der EM-Generalprobe.

Die 90 Minuten in Warschau zeigten wieder einmal das, was aus türkischer Sicht Hoffnung macht, nämlich ein starkes Spiel in der zweiten Halbzeit, als die eingewechselten Akteure wie Baris Yilmaz und Arda Güler frischen Wind brachten. Und sie zeigten das, was dem Team auch bei der EM zum Verhängnis werden könnten: das luftige und inkonsequente Verteidigen einer nicht eingespielten Abwehr.

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Das zentrale Abwehr-Paar ist noch nicht gefunden

Denn mit dem ehemaligen Freiburger Caglar Söyüncü und dem Hoffenheimer Ozan Kabak fehlen Montella zwei Innenverteidiger verletzt. Der Ex-Juve-Mann Merih Demiral als einer der Sündenböcke für das 1:6 in Österreich kommt aktuell auch nicht als Mann für die erste Elf in Frage, sodass gegen Polen der mit viel Vorwärtsdrang ausgestattete Abdulkerim Bardakci und Samet Akaydin das zentrale Defensivpärchen bildeten, wobei vor allem Akaydin nicht überzeugte. Gut möglich, dass bei der EM der erfahrene Ex-Schalker Kaan Ayhan für ihn aufgestellt wird, doch in jedem Fall wird die Türkei nicht das bieten können, was sich Montella von seiner Abwehr vorgestellt hat.

Vor der Defensive setzte der Italiener auf Hakan Calhanoglu und Salih Özcan auf der Sechs - quasi als Kopie des deutschen Duos Toni Kroos und Robert Andrich: Calhanoglu wie Kroos als tiefer Ballverteiler mit gefährlichen Standards, Özcan wie Andrich als bärtiger Zweikämpfer, der dem Dirigenten den Rücken freihält. Die Besetzung des defensiven Mittelfelds dürfte Montella deutlich weniger Kopfzerbrechen bereiten als die der Offensive in seinem 4-2-3-1-System.

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Montella: "... dann ist alles möglich"

Denn dort muss er eigentlich Arda Güler von Real Madrid bringen, Kenan Yildiz von Juventus Turin ebenso, den schnellen Kerem Aktürkoglu auf Außen und nach den letzten Eindrücken auch Baris Yilmaz in vorderster Front. Doch ob sich Montella traut, in diesem Maße auf die Jugend zu setzen, bleibt abzuwarten. Gegen Polen überraschte er immerhin schon mal alle mit einem Platz in der Anfangself für den 18 Jahre alten Semih Kilicsoy, der erst sein zweites Länderspiel machte - und dabei aber wenig zustande brachte.

Sollte sich in der Innenverteidigung per Zufall doch noch ein verlässliches Duo finden und es in der Offensive mit den vielen jungen und spielstarken Leuten funktionieren, dann könnte für die Türkei bei der EM tatsächlich einiges möglich sein.

Denn die Gruppe ist deutlich machbarer als noch bei den beiden vorherigen Europameisterschaften, als für das Land schon nach drei Begegnungen jeweils Schluss war: Es geht nun gegen Georgien, Portugal und Tschechien. "Das erste Spiel wird das schwerste. Georgien steht im FIFA-Ranking vielleicht unter uns, aber mit diesen Statistiken gewinnt man halt keine Spiele", sagte Montella. "Wir müssen es Schritt für Schritt angehen. Wenn wir die Gruppenphase erstmal überstanden haben, können wir von etwas anderem träumen. Meiner Erfahrung nach ist dann alles möglich", ergänzte er. Vielleicht auch, dass der Türkei-Trainer dann einen besonderen Sieg mit seinem ganz besonderen Flugzeug-Jubel feiert.