Im Interview mit SPOX spricht der Star von Real Madrid über seine Kindheit, einen Beinahe-Wechsel zu Paris Saint Germain und die EM-Euphorie in Deutschland.
Herr Rüdiger, Sie sind in sehr einfachen Verhältnissen in Neukölln aufgewachsen. Wie viel haben Sie als Kind von den legendären Galácticos mitbekommen?
Antonio Rüdiger: Um ehrlich zu sein, nicht wirklich viel. Aber was mir immer in Erinnerung bleibt, ist das Finale der Champions League 2002 gegen Bayer Leverkusen - dieses Tor von Zinedine Zidane. Das ist immer in meinem Kopf gewesen.
Was waren Ihre ersten Berührungspunkte mit Fußball, wer waren Ihre ersten Vorbilder?
Rüdiger: George Weah hat damals eine große Rolle für mich gespielt! Weil er der einzige Afrikaner war, der den Ballon d'Or gewonnen hat. Danach war es dann so um 2002 herum Ronaldo "El Fenómeno". Es ist natürlich schade, dass er im damaligen WM-Finale Deutschland besiegt hat. Aber Ronaldo war für mich trotzdem eine Inspiration.
Wie fanden Sie seine damalige Frisur, vorne lang hinten nichts?
Rüdiger: Ich fand die damals überragend und hatte sie auch...
Ihr fast acht Jahre älterer Bruder Sahr Senesie ist im Jahr 2000 zu Borussia Dortmund gewechselt. Sie sind als Familie in armen Verhältnissen aufgewachsen, hat sich das geändert, nachdem er zu Dortmund gegangen war?
Rüdiger: In dem Sinne verbesserte sich die Lage, dass ich ab diesem Zeitpunkt zum Beispiel richtige Fußballschuhe hatte. Was das Geld angeht, wurde es auch etwas besser. Aber es hat sich auch nicht alles geändert damals. Die Summen, die jungen Profis gezahlt wurden, waren damals auch andere als heute. Für uns als Familie war es trotzdem immer noch tough. Mein Bruder war damals noch jung, um die 16/17, und natürlich konnte er nicht sofort die Dinge zu Hause für die ganze Familie verändern. Das konnte dann erst ich machen im Laufe meiner Karriere.
Sie haben einmal erzählt, dass viele Ihrer Freunde aus der Jugend kriminell geworden sind. Profi oder kriminell - kann man das für Sie darauf zuspitzen?
Rüdiger: Zu Hause wirst du erzogen, und ich wurde definitiv gut erzogen. Aber wenn du die Tür verlässt, bist nur du mit dir selbst da draußen. Manchmal ist es dann so, dass es an dem Ort, an dem du aufgewachsen bist, schwierig ist, Nein zu sagen zu bestimmten Versuchungen und zu bestimmten Dingen. Wir brauchen niemandem etwas vormachen: Wir alle brauchen Geld. Es ist nicht das Wichtigste, aber wir brauchen es. Und zum damaligen Zeitpunkt haben wir es sehr gebraucht. Da kannst du leicht auf die schiefe Bahn geraten. Gott sei Dank für mich: Mein Ausweg war Fußball.
Im Sommer 2007 zog es Sie wie zuvor Ihren Bruder ebenfalls zum BVB, dort wurden Sie vom Offensivspieler zum Innenverteidiger umgeschult - wie hat Ihnen die Position am Anfang gefallen?
Rüdiger: Die Umstellung war richtig hart. Ich weiß auch nicht, ob diese Umstellung mit Blick auch meine optimale Entwicklung vollzogen wurde. Wenn ich heute darüber nachdenke, war es natürlich perfekt so.
Im Jahr 2011 sind Sie mit 18 Jahren in die Jugend des VfB Stuttgart gewechselt - warum das?
Rüdiger: Ich bin gegangen, weil ich einfach kurz- bis mittelfristig in der Bundesliga spielen wollte. Das habe ich bei Stuttgart damals mehr gesehen als in Dortmund. Der BVB war damals Meister geworden - da war es schwierig, reinzukommen als ganz junger Spieler. Es gab einfach sehr, sehr viele Talente, bei Weitem nicht nur Mario Götze. Im 1991er-Jahrgang zum Beispiel waren Daniel Ginczek, Marco Stiepermann, Marc Hornschuh, Lasse Sobiech und so weiter. Das waren alles gute Spieler, aber keiner von denen hat es wirklich geschafft. Bei Dortmund Bundesliga zu spielen, das hat nur Mario Götze geschafft. Deswegen wollte ich mir einen anderen Weg suchen und habe dann Stuttgart gewählt.
Einer Ihrer ersten Trainer bei den Profis war Huub Stevens, mit dem Sie noch heute ein gutes Verhältnis pflegen: Wie wichtig war Stevens zum Start Ihrer Profikarriere?
Rüdiger: Huub Stevens war ein harter Hund, aber außerhalb des Platzes war er eine sehr gute Person. Er war ehrlich, er hat nicht gelogen, das fand ich gut, das habe ich gebraucht. Man hat über ihn die harte Schule kennengelernt, vor allem diese Mentalität.
Mitten im Abstiegskampf der Saison 2013/2014 bezeichnete Stevens die Stuttgarter Mannschaft im Training als "Affen", im darauffolgenden Spiel jubelte das Team nach einem Tor wie eine wildgewordene Affenbande. War dieser Jubel als Reaktion auf die Ansage geplant?
Rüdiger: Das war nicht geplant, das kam aus dem Moment heraus. Da haben wir einfach so gejubelt und fertig. Damals wurden Dinge aus dem Kontext gerissen und wir haben dann einfach ein Affentheater daraus gemacht (lacht).
Blicken wir auf Ihre Karriere. Luciano Spalletti, Frank Lampard, Thomas Tuchel, Antonio Conte, Carlo Ancelotti: Die Trainernamen in Ihrer bisherigen Laufbahn füllen viele Wikipedia-Seiten - mit wem kamen Sie besonders gut klar?
Rüdiger: Ich hatte definitiv viele gute Trainer. Wenn ich jetzt einen wählen müsste, wäre es Thomas Tuchel. Mit ihm kam ich besonders gut klar. Seine ehrliche Art hat mir einfach gepasst. Außerdem: Wenn ich auf sein taktisches Verständnis schaue: Wow!
Sie haben mehrere italienische Trainer in Ihrer Karriere kennenlernen dürfen - Unterscheiden sich diese in ihrer Herangehensweise zu den anderen Trainern, unter denen Sie bisher gespielt haben?
Rüdiger: Ich muss ehrlich sagen, dass alle Italiener wirklich sehr fordernd sind. Aber Carlo (Ancelotti, Anm. d. Red.) ist da wirklich sehr entspannt. Bei Conte war wirklich sehr viel Disziplin nötig. Taktisch war das auf sehr hohem Niveau - einfach ein richtig guter Trainer. Luciano Spalletti ist wirklich top. Wenn ich die Arbeit sehe, die er bei Napoli geleistet hat: Wahnsinn.
Unter Spalletti ging bei der Roma auch der Stern von Vereinslegende Francesco Totti unter. Wie hat die Mannschaft das damals aufgenommen, wie war die Stimmung in der Kabine?
Rüdiger: Da hat es definitiv gebrodelt. Die beiden hatten eine Vorgeschichte, die ich nicht kenne. Aber am Ende haben sich beide respektiert, Spalletti und Totti waren einfach zwei Alphatiere.
Unter Frank Lampard wurden Sie in der Saison 2019/20 beim FC Chelsea aussortiert. Wie kam es dazu?
Rüdiger: Ehrlich gesagt kann ich bis heute nicht sagen, was damals genau passiert ist. Das gehört zum Fußball dazu. Vielleicht hat er andere Ideen gehabt oder andere Spieler besser gesehen. Aber das Gute im Fußball ist: Die Antwort liegt auf dem Platz und ich glaube, ich habe die perfekte gegeben.
Hätten Sie die Blues in der damaligen Phase gerne verlassen?
Rüdiger: Ich wollte wirklich gehen. Ich wollte weg. Ich wollte zu Thomas Tuchel zu Paris Saint-Germain, das war mein Wunsch. Aber es ist nicht dazu gekommen und ein halbes Jahr später kam Tuchel dann von PSG zum FC Chelsea. Wir haben dann zusammen die Champions League gewonnen. Es sollte wohl so sein.
Was hat unter Tuchel besser funktioniert als unter Lampard?
Rüdiger: Wahrscheinlich habe ich einfach besser in seine Vorstellung vom Fußball gepasst und er hat mich auch als Typ sehr geschätzt.
Inwiefern?
Rüdiger: Dass ich Führung übernehmen kann und vorangehe.
Wir Journalisten kommen immer wieder zu dem Schluss, dass eine Mannschaft gegen ihren Trainer spiele. Gibt es das wirklich? Wie funktioniert das?
Rüdiger: Vielleicht. Aber in meiner Karriere ist so etwas bisher noch nicht vorgekommen. Unter Lampard habe ich am Ende seiner Amtszeit sogar wieder gespielt. Ich sage es mal so: Wenn es irgendwann nicht mehr passt, dann passt es nicht mehr. Aber kein Fußballer auf dieser Welt verliert mit Absicht.
Jetzt spielen Sie unter Carlo Ancelotti, der gerne als Kabinentrainer, also als eine Art Feelgoodtrainer für die Spieler, beschrieben wird. Wie ist ihr Eindruck?
Rüdiger: Das stimmt definitiv. Carlo hat seinen eigenen Weg und er macht das einfach perfekt, er wirkt einfach natürlich. Natürlich ist er auch mal sauer, aber unter Carlo gehen wir alle zusammen in eine Richtung - und genau so ist es perfekt.
Jetzt spielen Sie seit knapp anderthalb Jahren bei Real Madrid. Was bedeutet es Ihnen, für so einen glorreichen Verein zu spielen?
Rüdiger: Das ist etwas, was ich mir erträumt habe. Das war nie in meinem Kopf präsent. Für mich war die Premier League das allerhöchste Ziel. Ich wollte auf jeden Fall in der Premier League spielen, aber bei Topklubs wie dem FC Chelsea und Real Madrid - das ist einfach ein Bonus für die harte Arbeit, die ich all die Jahre reingesteckt habe.
Blicken wir auf die kommende Europameisterschaft 2024. Die grundsätzliche Euphorie der Fans in Deutschland hält sich trotz der Aussicht auf die Heim-EM noch in Grenzen. Können Sie diese Einstellung verstehen?
Rüdiger: Verstehen kann man es natürlich, vor allem wenn man sieht, wie wir uns in den vergangenen Länderspielen präsentiert haben. Dann macht das natürlich nicht so viel Mut auf so ein großes Turnier. Am Ende liegt es an uns Spielern. Wir sind dafür verantwortlich, die Euphorie nach Deutschland zu bringen. Wenn die Ergebnisse stimmen, wenn die Art, wie wir spielen stimmt, dann haben wir auch die Fans hinter uns.
Was macht Sie optimistisch?
Rüdiger: Wir haben eine gute Mannschaft, wir haben einen Top-Trainer und wir alle wissen, wie spät es ist. Es ist eine EM, jeder wird motiviert sein und jeder wird auch alles reinwerfen. Deswegen mache ich mir keine Sorgen.
Was ist Ihr Ziel für die EURO 2024?
Rüdiger: Wenn ich da hingehe, will ich auch so weit wie möglich kommen. Da ist die momentane Situation egal, es ist egal, was wird und was davor war. Wir nehmen nicht einfach nur teil, um Hallo zu sagen. Ich will natürlich hingehen, um so weit wie möglich zu kommen. Aber wir gehen das Step by Step an und wir werden vorbereitet sein.